Der Fluch der Maorifrau
»Ich glaube, ich muss Ihnen einiges erklären. Ihre Mutter hat mich aufgesucht, um ein Testament zu ändern, das sie vor mehr als vierzig Jahren bei meinem Vater aufgesetzt hatte. Sie ist also quasi schon lange eine Mandantin unserer Kanzlei.«
»Schon lange eine Mandantin Ihrer Kanzlei? Das kann ich kaum glauben! Meine Mutter hat noch nie zuvor einen Fuß in Ihr Land gesetzt!«, widersprach Sophie heftig.
»Ihre Mutter besaß die neuseeländische Staatsangehörigkeit«, erklärte er fest, sichtlich geschockt ob ihrer Ahnungslosigkeit.
»Wie bitte?«
»Emma de Jong hatte einen neuseeländischen Pass.«
»Wie bitte? Wieso? Das kann doch nicht sein! Ich verstehe das nicht.« Ihre Stimme klang verzweifelt.
»Bitte gedulden Sie sich ein wenig! Die Unterlagen, die Ihre Mutter mir für Sie gegeben hat, werden Licht in das Dunkel bringen und das Geheimnis lüften.« Sophie spürte erneut seine Hand auf ihrem Arm. »Es wird für alles eine Erklärung geben, Sophie. Ich darf Sie doch Sophie nennen?«
Sophie nickte nur. Ihr Herz klopfte wie wild. Ein Geheimnis? Ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Das alles war ein einziger, nicht enden wollender Albtraum. Die Reise ihrer Mutter war viel mehr gewesen als nur ein harmloser Urlaub - aber was? Was hatte sie ihr bloß verschwiegen? Sophie glaubte plötzlich zu ersticken. Rasch öffnete sie das Fenster und sog die frische Meeresluft tief in die Lungen ein. Es roch noch würziger als am Flugplatz, sie schien näher am Wasser zu sein. Große Möwen segelten kreischend durch die Lüfte. Dort draußen zog plötzlich eine ganz andere Welt vorbei als das satte Grün voller Schafherden. Sie fuhren jetzt durch eine Straße, die zu beiden Seiten von Reihenhäusern gesäumt war. Häuser, deren Stil Sophie auf diesem Flecken Erde überraschte.
»Es sieht hier ja aus wie in Schottland!«, rief sie erstaunt.
»Gut beobachtet. Dunedin ist die schottischste Stadt der Welt - außer Edinburgh. Der Name leitet sich sogar davon ab. Edinburgh heißt auf Gälisch Dùn Eideann. Als sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Schotten hier ansiedelten, nannten sie die Stadt New Edinburgh. 1867 war Dunedin die größte Stadt Neuseelands.« Dem jungen Anwalt war die Erleichterung über den Themenwechsel anzuhören.
Sophie jedoch hatte dem gleichmäßigen Klang seiner tiefen Stimme gelauscht, ohne wirklich aufzunehmen, was er da redete. Seine Stimme wirkte beruhigend auf sie.
Mittlerweile fuhren sie über eine steil ansteigende Straße auf eine Art Stadtzentrum mit hohen Geschäftshäusern zu. Am höchsten Punkt ging es genau so steil wieder hinunter. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Natürlich, es ist Weihnachten, dachte Sophie.
Vor einem der Bürohäuser hielt John Franklin an. »Da wären wir bei Franklin, Palmer & Partner. Heute können wir hier parken. Die Leute sind alle draußen am Meer.«
»Gibt es hier schöne Strände?«, fragte Sophie zögernd.
»Ja, die Strände an der Ostküste sind wunderschön, nur dass das Wasser zu kalt ist. Ich gehe da nicht gern schwimmen. Es fehlt der Golfstrom, der das Baden bei Ihnen so angenehm macht«, beeilte sich John Franklin zu sagen, um das Gespräch in Gang zu halten. »Jeder Neuseeländer, der etwas auf sich hält, fliegt nach Europa, so oft er es sich leisten kann. Wir haben doch alle unsere Wurzeln dort. Meine Familie zum Beispiel kommt zu einem Teil aus Schottland, und ich habe als Student einen großen Europa-Trip gemacht. Mit Rucksack.«
Mit diesen Worten sprang er aus dem Wagen und lief zur Beifahrerseite, um ihr höflich die Tür aufzuhalten.
»Am besten lassen wir Ihren Koffer im Wagen. Ich fahre Sie danach in Ihr Hotel. Ich habe mir erlaubt, ein Zimmer im Kingsgate für Sie zu reservieren. Ich hoffe, es ist Ihnen recht.«
Sophie nickte. Ihr war es völlig gleichgültig, wo sie heute Nacht schlief. Hauptsache, sie hatte ein weiches Bett, in dem sie sich ausstrecken konnte, ohne die ganze Nacht das Brummen von Flugzeugdüsen zu hören.
Während sie die Straße überquerten, sickerte in ihr Bewusstsein, was der Anwalt ihr eben mitgeteilt hatte: Emma hatte bereits vor über vierzig Jahren ein Testament in Neuseeland gemacht! Als junge Frau also, aber das bedeutete doch, dass sie ...
»Wir sind da!« Damit unterbrach John Franklin ihre Überlegungen.
Die Kanzlei lag im ersten Stock und war modern eingerichtet. Einige alte, wertvolle Möbelstücke verliehen dem Ganzen jedoch eine äußerst stilvolle Note.
Es zeugt von
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