Der Fluch der Schriftrollen
einigermaßen
gefestigt.
Wenn er nur nicht plötzlich
wieder in eine andere Zeit abglitt oder von Gedächtnisschwund heimgesucht
würde; wenn er keine Wutausbrüche bekam, wie Ben sie zuvor gehabt hatte, dann
wäre diese neue Entwicklung möglicherweise nur von Vorteil. Zumindest im
Augenblick.
»Und wie soll es
weitergehen?« fragte sie ruhig. »Das kann ich nicht wissen. Die Zukunft ist mir
ebenso unbekannt wie dir.«
»Aber gewiß kannst du nicht
als Ben Messer weitermachen.«
»Und warum nicht? Der Name
hat mir bis jetzt gute Dienste geleistet. Ich kann die Identität auch noch eine
Weile länger benutzen, bis ich mir über meine Pläne klar werde. Doch wie dem
auch sei, liebe Judith«, er griff nach ihrer Hand, »sie werden dich mit
einschließen.« O Ben, schrie sie innerlich voller Verwirrung, ich will, daß du
mich immer mit einschließt! Und ich liebe dich über alles. Aber was bist du
jetzt? Wer bist du? Und wer wirst du morgen sein? »Warum schaust du so traurig,
Judith?« Sie wandte ihr Gesicht ab. »Weil ich Ben liebe.«
»Aber ich bin doch der
gleiche Mann.«
»Nein«, entgegnete sie
schnell, »nein, das bist du nicht.«
»Nun…« Seine Stimme wurde
leiser. »Kannst du in deinem Herzen nicht auch ein wenig Liebe für mich
finden?«
Sie wandte sich jäh um. Auf
seinem Gesicht spiegelten sich Sehnsucht und sanfte Trauer wider. Sie spürte,
wie er mit den Fingerspitzen ihre Wange streichelte, hörte seine liebevolle
Stimme. In ihren Augen war es Ben, der da ungeschickte Versuche unternahm, mit
ihr zärtlich zu werden, doch im Herzen wußte sie, daß es ein anderer Mann war.
In seinem Identitätskampf hatte Ben die Schlacht verloren und auf sonderbare
Weise die Persönlichkeit des Mannes aus den Schriftrollen angenommen. Aus
welchen unausgesprochenen Bedürfnissen und verborgenen Gründen heraus es auch
geschehen sein mochte, Ben hatte sich nun einmal entschlossen, David zu werden,
einfach, weil er nicht mehr stark genug war, als Ben weiterzuleben. »Ich will
dich zurück«, flüsterte Judy in einem letzten Versuch, auf ihn einzuwirken.
»Schick David dorthin zurück, wo er hingehört, Ben, und komm zurück zu mir.«
Doch der Mann, der sie weiter
geheimnisvoll anlächelte und mit seinen tiefsinnigen, dunklen Augen liebevoll
anblickte, war nicht Benjamin Messer.
Es war unvorstellbar, daß die
nächste Rolle an diesem Nachmittag eintreffen würde, und doch war es so. Nummer
zwölf kam wie gewöhnlich als Einschreiben und erforderte die übliche
Unterschrift. Aber diesmal wurde sie anders in Empfang genommen. Anstelle der
Erregung und Unruhe, die Ben beim Erhalt der vorangegangenen Rolle an den Tag
gelegt hatte, wurde Rolle Nummer zwölf mit Gelassenheit und stiller Freude
entgegengenommen. Ben stieg in aller Seelenruhe die Treppe hinauf und betrat
die Wohnung. Dann lief er voll Bedacht umher, legte Heft und Bleistift zurecht
und stellte das Licht richtig ein. Pfeifenhalter, Tabaksbeutel und Aschenbecher
waren vom Schreibtisch entfernt und aus dem Blickwinkel verbannt worden – sie
waren nicht länger notwendig. Poppäa Sabina, die sich auf dem Drehstuhl
zusammengerollt hatte, machte einen Buckel und fauchte Ben an, als er sich
näherte. Dann sprang sie vom Stuhl und schoß wie ein Pfeil aus dem Zimmer. Ben
schüttelte nur den Kopf.
Judy blieb zögernd an der Tür
stehen und beobachtete ihn, wie er sich langsam darauf vorbereitete, die
nächste Rolle in Angriff zu nehmen. Das war nicht der Ben, den sie früher
gekannt hatte, der zu diesem Zeitpunkt die Fotos schon herausgezerrt, den
Umschlag auf den Fußboden geworfen und bereits die ersten Worte übersetzt
hätte, noch bevor er sich hingesetzt hatte.
Als er aufblickte und sie im
Türrahmen stehen sah, fragte er: »Bist du nicht interessiert?«
»Doch schon…«
»Nun, dann komm und setz dich
neben mich. Lies, während ich schreibe. Wir werden diese Tage meines Lebens
noch einmal miteinander durchleben.«
Während Judy einen Stuhl
heranzog und sich neben ihn setzte, murmelte sie: »Weißt du nicht bereits, was
darin steht?« Doch er gab keine Antwort.
Rolle Nummer zwölf befand
sich in erbärmlichem Zustand. Sie setzte sich aus sechs Bruchstücken zusammen,
deren Kanten zerfressen waren; mitten auf der Seite klafften Löcher, und
stellenweise war die Handschrift unleserlich. Doch was verblieb, war noch immer
ein großer Teil und sehr informativ.
Ich kehrte heim in ein von
politischen Unruhen geschütteltes Judäa. Meine
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