Der Fluch der Schriftrollen
Gelassenheit beibehielte – zumindest bis die letzte Rolle
gelesen war –, könnte sie gut mit ihm fertig werden. Was danach geschehen
würde, konnte sie sich nicht im geringsten vorstellen. Und es war ihr im
Augenblick auch gleichgültig. Momentan ging es für sie und Ben allein darum,
einen weiteren Tag irgendwie durchzustehen.
Er schaute auf, als sie ins
Zimmer kam, und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Guten Morgen,
Judith. Fühlst du dich besser?«
»Ja, danke.«
Sie musterte ihn vorsichtig.
»Du bist in meinen Armen
eingeschlafen, und da habe ich dich ins Bett getragen. Du bist so leicht; es
war, wie wenn man ein Kind hochhebt.«
Als er sprach, starrte Judy
ihn mit wachsender Faszination an. Der Mann vor ihr war, mit Ausnahme der
braunen Augen, in jeder Hinsicht Benjamin Messer. Nur war es nicht…
Er kam auf sie zu und ergriff
ihre Hand. Dann führte er sie zum Eßtisch.
Nein, dieser Mann war
zweifellos verändert. Er mochte genauso aussehen wie Ben Messer, unterschied
sich aber von ihm durch sein ganzes Verhalten. Die Gebärden und das zuweilen
etwas gespreizte Benehmen gehörten zu einem anderen. Und seine Art, sich zu
geben, war völlig neu. Dieser Mann erschien älter, reifer und auffallend
selbstsicher. Er war ein Mensch, der sich selbst voll unter Kontrolle hatte und
es gewohnt war, den Ton anzugeben. Er setzte sich an den Tisch vor eine
dampfende Tasse Kaffee und einen Teller mit Eiern und Buttertoast. Während er
ihr gegenüber Platz nahm, erklärte er: »Ich habe schon gegessen. Bitte, laß es
dir schmecken, du wirst dich gleich besser fühlen.« Judy merkte beim Essen, wie
hungrig sie eigentlich war. Gierig verschlang sie das Frühstück und stürzte
zwei Tassen Kaffee hinunter. Während sie aß, hielt Ben/David seinen
beunruhigenden Blick ständig auf sie geheftet und ließ sie keine Sekunde aus
den Augen. Ein kaum merkliches heimlichtuerisches Lächeln umspielte die ganze
Zeit über seinen Mund. Zweimal wollte sie etwas sagen, doch jedesmal hob er
eine Hand und meinte: »Iß zuerst. Später werden wir uns unterhalten.« Und sie
gehorchte.
Anschließend gingen sie
zusammen ins Wohnzimmer, das zu Judys Überraschung mit peinlicher Gründlichkeit
gereinigt worden war. Sogar der Weinfleck auf dem Teppich erschien blasser, und
alles wirkte sauber und ordentlich. Ohne nachzusehen, vermutete sie, daß es im
Arbeitszimmer wohl genauso aussah.
Als sie sich auf der Couch
niederließen, sagte Ben: »So, nun fühlst du dich sicher besser. Ist es dir
jetzt immer noch unbehaglich, mit mir zusammen zu sein?«
»Ich weiß nicht«, antwortete
sie unsicher. »Bist du…?« Er lachte herzlich. »Ja, ich bin noch immer David.
Ich habe dir doch gestern nacht gesagt, daß Ben fort ist und nie mehr
wiederkommt. Aber ich sehe ein, daß es Zeit braucht, dich davon zu überzeugen.
Das ist schon in Ordnung, denn ich bin ein geduldiger Mensch.« Judy lehnte sich
bequem auf der Couch zurück. Jetzt, da sie gegessen hatte, fühlte sie sich
wirklich besser und überlegte, was sie als nächstes sagen sollte. »Wenn du
David Ben Jona bist«, begann sie vorsichtig, »dann kannst du mir ja sicher
verraten, was in der nächsten Rolle steht?«
Er lächelte vielsagend. »Du
willst mich auf die Probe stellen, Judith. Das ist ein Zeichen von
Ungläubigkeit, und ich will, daß du an mich glaubst. Tust du das?«
»Du weichst meiner Frage
aus.«
»Und du meiner.«
Judy drehte
sich um, so daß sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Ich habe keine Lust,
Wortspiele mit dir zu veranstalten, Ben. Ich versuche nur zu verstehen, was
passiert ist. Du behauptest, du seist jetzt der wiedergeborene David. Ist das
richtig?«
»Wenn dir
diese Ausdrucksweise zusagt, ja. Aber es ist mehr als eine Wiedergeburt, mehr
als eine Wiederverleiblichung, denn, siehst du, ich war ja nie wirklich fort.
Als Benjamin Messer bin ich die ganze Zeit über hier gewesen.«
»Ich begreife…«
»Das glaube ich nicht.«
»Nun, zumindest versuche ich
es.« Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn wieder.
Ja, diese neue Persönlichkeit
war zweifellos umgänglicher. Benjamin Messer war ein Mensch gewesen, der von
seiner Vergangenheit gequält wurde und mit dem man nur schwer auskommen konnte.
Als David von ihm Besitz ergriffen hatte, war er still und in sich gekehrt.
Doch dieser neue Zustand, in dem er nun tatsächlich den Juden verkörperte, war
beinahe angenehm. Er wirkte vernünftig, war mitteilsam und schien
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