Der Fluch der Schriftrollen
Landsleute sahen sich immer
weniger imstande, die Anwesenheit unserer römischen Oberherren hinzunehmen, und
ich gewahrte überall Anzeichen des Aufruhrs. Salmonides und ich waren beide
zutiefst erschrocken, als wir entlang der Straße nach Joppe so viele Kreuze
sahen, und fragten uns verwundert, ob die Zelotenbewegung in unserer Abwesenheit
derart Zulauf bekommen hatte. Wir sahen auf den Straßen auch wesentlich mehr
römische Legionen als früher, viele von ihnen bis zu den Zähnen bewaffnet und
von Rom neu ausgerüstet, und wir erkannten, daß uns unruhige Zeiten
bevorstanden.
Aber nach einer Abwesenheit
von so vielen Monaten war es schön, wieder unter Freunden zu sein und meine
Lieben in die Arme zu schließen. Sie hatten sich alle in meinem Haus
zusammengefunden: Saul und Sara und der kleine Jonathan; Rebekka und unsere
Freunde von den Armen und sogar Jakob, der in seinen weißen Gewändern abseits
der Gruppe stand und sich in asketisches Schweigen hüllte. Saul wusch meine
Füße, als ich hereinkam, und ich bemerkte, daß er Tränen in den Augen hatte. Er
sprach: »Wahrlich, es ist ein freudiger Tag, der mir meinen Bruder
zurückgebracht hat! Wir haben dich vermißt, David, und jeden Tag gebetet, daß
dir in Babylon nichts zustoßen möge.«
Ich bemerkte, daß er seine
besten Kleider trug und daß er seinen Gesetzesunterricht heute hatte ausfallen
lassen, um den ganzen Tag mit mir zu verbringen. Dann kam Rebekka zu mir. Sie
fiel mir um den Hals und küßte mich und ließ ihre Tränen ungehindert auf meine
Schulter fließen. Wenn sie auch tief im Herzen vor Sorge vergangen war, so
sprach sie es dennoch nicht aus. Auch erinnerte sie mich mit keinem Wort an die
Einsamkeit, unter der sie in meiner Abwesenheit gelitten hatte. Rebekka war
eine gute Frau, die wußte, daß ich aus Notwendigkeit gehandelt hatte.
So hielt ich sie auf
Armeslänge von mir weg und versprach: »Es wird in Zukunft keine Reisen nach Rom
mehr geben, meine Liebste, denn ich habe genug gesehen.«
Als nächster begrüßte mich
der kleine Jonathan, dessen Wiedersehensfreude keine Grenzen kannte. Er drückte
mich an sich und küßte meine Wangen und plapperte, ohne Luft zu holen, über all
die Dinge, die ich versäumt hatte, während ich weg gewesen war. Und mein Herz
lachte vor Freude, ihn zu hören und ihn anzuschauen, denn ich liebte den
kleinen Jonathan innig. Er hatte Sauls Gabe, schnell Freundschaft zu schließen,
und er hatte das schöne Gesicht seiner Mutter. Doch tief im Herzen wußte ich,
daß ich Jonathan so übermäßig liebte, weil ich noch immer kein eigenes Kind
hatte und daran schier verzweifelte.
Als Sara zu mir trat, um mich
willkommen zu heißen, wurden meine Knie weich, und mein Herz schrie auf, denn
sie war noch immer die eine Frau, die ich über alles liebte, und es war ihr
Bild gewesen, das ich in den endlosen Nächten auf See vor mir gesehen hatte.
Seitdem sie den Armen beigetreten war und viel Zeit in der Gesellschaft von
Miriam und den anderen Frauen verbrachte, war Sara noch schöner und strahlender
geworden, Ihr Glaube an Gott und an die Wiederkehr des Königreichs Israel
hatten ihr eine besondere innere Schönheit und eine Ruhe verliehen, die sich in
ihren Augen widerspiegelten.
Seit dem Tag im Olivenhain
hatten wir nie wieder von Liebe gesprochen. Doch man kann sich einander auch
auf andere Art als durch Worte mitteilen, und an diesem Tag sah ich auf ihrem
Gesicht und in ihren Augen, daß sie mich noch immer liebte. Jakob, der Führer
der Armen, wartete, bis alle mich begrüßt hatten, bevor er selbst zu mir trat
und mir den Friedenskuß gab. Dann sprach er: »Bruder, es bereitete uns großen
Kummer, dich in Babylon zu wissen, während wir stets in dem Bewußtsein lebten,
daß das Königreich Gottes nahe bevorstand. Josua wird vielleicht schon morgen
vor den Toren Jerusalems stehen, und wir befürchteten, daß du an diesem
glorreichen Tage noch immer fern von uns weilen könntest. Aber jetzt bist du
zurück und wirst das zweite Kommen des Messias nicht versäumen.«
Jakobs stechende Augen
drangen in meine Seele vor, und ich sah in seinem Blick den festen Glauben an
die bevorstehende Wiederkunft seines Bruders. Er ergriff meine Arme und sprach
kein Wort mehr, aber in seinem Gesicht konnte ich seine Gedanken lesen. Er
sagte mir, daß dies wirklich die letzten Tage seien, von denen die Propheten
gesprochen hatten, denn allerorten herrsche Unruhe und Aufregung. Dies waren
die Weissagungen von Jesaja, Jeremia und
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