Der Fluch der Schriftrollen
»Mein Unterricht!«
»Professor Cox rief mich
heute morgen an und wollte wissen, wo du seist. Ich sagte ihm, daß du furchtbar
krank bist und im Bett liegst. Nun sehe ich, daß ich damit gar nicht so weit
von der Wahrheit entfernt war. Was ist geschehen?«
»Ich hatte für sie einen Text
fix und fertig vorbereitet…«
»Er hat die Stunde ausfallen
lassen. Ist schon in Ordnung.«
»Aber ich habe sie auch
letzten Donnerstag verpaßt. Ich muß mich wirklich zusammenreißen.« Er schwang
seine Füße über den Couchrand und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.
»Menschenskind, fühl ich mich hundeelend! Machst du mir einen Kaffee?«
»Aber klar doch.« Der
Blumenduft verflog, als Angie in die Küche ging. »Was ist dir denn passiert,
Schatz?«
»Ich habe letzte Nacht die
ganze Rolle übersetzt und dann… und dann…« Ben rieb sich die Augen. Und dann
was? Was stimmte nicht mit ihm? Warum konnte er sich nicht daran erinnern, was
passiert war, nachdem er die Rolle beendet hatte? Warum gab es für die Stunden
zwischen dem Übersetzen der Rolle und dem Moment, als Angie ihn auf der Couch
gefunden hatte, einen weißen Fleck in seinem Gedächtnis? »Gott…«, murmelte er.
»Ich fühle mich schrecklich. Was um alles in der Welt ist gestern denn in mich
gefahren?« Und zu Angie gewandt, meinte er lauter: »Ich muß wohl todmüde
gewesen sein, schätze ich.«
Dann ging er ins Badezimmer,
wo er kalt duschte. Nachdem er sich frische Sachen angezogen hatte, fühlte er
sich etwas besser, doch der seltsame Gedächtnisverlust beschäftigte ihn die
ganze Zeit. Er erinnerte sich nur an den unheimlichen Zwang, der ihn trotz
seiner extremen Müdigkeit genötigt hatte, weiterzuarbeiten, bis er sich vor
Erschöpfung auf die Couch gelegt hatte und eingeschlafen war. Angie saß am
Frühstückstisch vor dem dampfenden Kaffee, der schon eingeschenkt war, und
beobachtete ihn, als er auf sie zuging. »Tut mir leid, daß ich dir Sorgen
gemacht habe, Angie. Gewöhnlich schlafe ich nicht so fest.«
»Das weiß ich. Hier, trink
ihn schwarz. Sag mal, Ben, warum hast du gerade eben gehinkt? Hast du dich am
Bein verletzt?« Er blickte sie leicht verwundert an. »Warum, Angie, ich habe
doch immer gehinkt. Das wußtest du doch.« Seine Miene verfinsterte sich. »Seit
jenem Bootsunglück auf dem See…«
Sie starrte ihn einen Moment
fassungslos an, zuckte dann die Achseln und meinte: »Wie dem auch sei, ich habe
eine großartige Idee. Laß uns eine Fahrt die Küste entlang machen. Ich habe
heute keinen Termin, und es ist ein herrlicher Tag.«
Unwillkürlich wandte er
seinen Kopf dem Schreibtisch zu, wo die Arbeit der letzten Nacht lag, als hätte
ein Orkan darin gewütet. Wieder kamen ihm Erinnerungen an die unheimliche
Stimmung, die ihn während des Übersetzens überwältigt hatte. Das unerwartete
Echo der Stimme seiner Mutter, die Worte sprach, die ihm einst so vertraut
gewesen waren, die er aber schon lange vergessen hatte. Jonas’ Lebensmotto: der
erste Psalm. »Das finde ich nicht…«
»Ich bin gestern nacht bis um
zwei Uhr aufgeblieben und habe auf dich gewartet.«
Er antwortete nicht und
starrte unverwandt auf seinen Schreibtisch. Angie streichelte seine Hände mit
ihren langen, kühlen Fingern. »Du arbeitest zu hart. Komm schon, laß uns einen
Ausflug machen. Das hat dir doch immer gefallen. Es entspannt dich…«
»Nicht heute. Ich will mich
nicht entspannen.« Ben warf einen raschen Blick auf die Uhr. »In zwei Stunden
kommt die Post. Ich will dann hier sein.«
»Wir werden rechtzeitig
zurück sein.«
»Angie«, erwiderte er, wobei
er aufstand und den Kaffee unberührt stehen ließ, »du verstehst das nicht. Ich
kann im Moment nicht von meiner Arbeit fort.«
»Warum nicht? Hast du nicht
gesagt, du hättest es fertigübersetzt?«
»Ja schon, aber…« Aber was?
Was konnte er ihr erzählen? Wie konnte er ihr diesen plötzlichen Zwang
erklären, bei den Schriftrollen zu verharren, Davids Worte immer und immer
wieder zu lesen, und dazu die wachsende Spannung, mit der er die nächste
Schriftrolle erwartete. »Es ist nur, daß…«
»Los, Ben, komm schon.«
»Nein, du verstehst nicht.«
»Nun, dann sag es mir doch,
vielleicht verstehe ich hinterher.«
»Ach, komm, Angie! Du hast
mich ja nicht einmal gefragt, was in der zweiten Rolle stand! Himmel, so etwas
Phantastisches, und du interessierst dich nicht einmal dafür!« Sie starrte ihn
verblüfft an und schwieg.
Ben bereute es sofort. Er
steckte seine Hände in die
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