Der Fluch der Schriftrollen
er längst vergessen hatte,
klang nun seltsam fern und doch nahe zugleich an sein Ohr: »Benjy, erinnere
dich immer daran, was dein Vater dich gelehrt hat, daß Gott den Weg der
Gerechten behütet, und daß der Weg der Sünder in den Abgrund führt.«
Das Lieblingszitat seines
Vaters, das dem ersten Psalm entstammte, war den meisten Leuten nicht geläufig.
Für Ben aber war es eines der vertrautesten Leitmotive seiner Kindheit gewesen,
denn seine Mutter hatte es mindestens einmal am Tag wiederholt. Es war die
Grundphilosophie seines Vaters gewesen, und Rosa Messer hatte dafür gesorgt,
daß ihr Sohn sich diesen Satz einprägte. Nur daß Ben seit über zwanzig Jahren
nicht einen Gedanken an diese Worte verschwendet hatte! Bis jetzt.
Ben Messer blickte mit halb
zugekniffenen Augen auf das aramäische Schriftstück, und eine bittersüße Wehmut
überkam ihn. Wie erschütternd, gerade jetzt auf genau diese Worte zu stoßen!
Wie sonderbar, daß dieser seit Jahrhunderten tote Jude sie nun zu ihm sprach und
Erinnerungen an längst vergangene Zeiten in ihm weckte.
Zwei Jonas, der eine war vor
zweitausend, der andere vor dreißig Jahren gestorben, und beide hatten sie nach
derselben Philosophie gelebt, nach derselben düsteren Warnung aus den Psalmen.
Ben starrte eine Weile vor sich hin und dachte an die lange begrabene
Erinnerung, die David zufällig ans Tageslicht gebracht hatte. Ben durchlebte
sie nur für einen Augenblick, wandte sich dann aber von ihr ab und drängte die
Vergangenheit in den Schatten zurück. Ben lächelte wehmütig. Die Erschütterung
hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und ihn für einen Moment die Arbeit
vergessen lassen, die vor ihm lag. Eine Sekunde lang war er das hilflose Opfer
von Davids Macht gewesen, der Macht, das Vergangene zurückzubringen. Jetzt
schüttelte er den Kopf und zwang sich, die Übersetzung wiederaufzunehmen.
Einmal nahm er uns alle mit
nach Jerusalem zum Passahfest, und obwohl er beim Anblick des Tempels und beim
Erklingen des Widderhorns Tränen in den Augen hatte, war er doch froh, zu
seinem einfachen Leben am Seeufer zurückzukehren. Die Tage meiner Kindheit
verliefen unbeschwert und ruhig und wurden nur einmal erschüttert, als ich neun
Jahre alt war. Bei demselben Bootsunglück auf dem See, bei dem mein Bruder
Judas ums Leben gekommen war, hatte ich mir das Bein gebrochen. Und obgleich es
rasch heilte, blieb mir davon ein hinkender Gang zurück, der bis zum heutigen
Tag nicht von mir gewichen ist. Als meine Brüder zu Männern herangewachsen
waren, traten sie in die Fußstapfen unseres Vaters und wurden Fischer. Nur ich
bildete die Ausnahme. Ich glaube, mein Vater hatte sein ganzes Leben lang etwas
anderes mit mir, seinem jüngsten Sohn, vorgehabt. Ich ertappte ihn oft dabei,
wie er mich bei verschiedenen Gelegenheiten mit einem seltsamen
Gesichtsausdruck ansah. Und ich nehme an, daß ich aus diesen nur ihm bekannten
Gründen im Alter von dreizehn Jahren von Magdala weggeschickt wurde, um in
Jerusalem zu Füßen der Gelehrten zu studieren. Und dies, mein Sohn, ist der
Zeitpunkt, an dem alles begann.
Kapitel Vier
Ein lautes, lästiges Klopfen
drang an sein Ohr. Er bewegte seinen Kopf vorsichtig hin und her und merkte,
daß er schrecklich schmerzte. Das Klopfen hielt noch eine kurze Weile an, dann
hörte es auf, und es folgte ein rasselndes, klirrendes Geräusch. Ben stöhnte.
Er fühlte sich elend.
Dann vernahm er das Klappen
einer Tür. Leise Fußtritte näherten sich über den Teppich. Gleich darauf wurde
er von einer Duftwolke eingehüllt, und eine sanfte Stimme fragte liebenswürdig:
»Ben?« Er stöhnte lauter.
»Ben, Liebling! Fühlst du
dich nicht wohl?«
Mühsam schlug er die Augen
auf und erblickte Angie, die besorgt und liebevoll an seiner Seite kniete. Er
versuchte zu sprechen, aber sein Mund fühlte sich trocken und pelzig an. Dann
fragte er sich, warum er auf der Couch lag und warum sein Kopf wie rasend
schmerzte. »Ich klopfte und klopfte und benutzte schließlich meinen eigenen
Schlüssel. Ben, was ist los? Warum schläfst du in deinen Kleidern?«
Das erste, was er
herausbrachte, war: »Hm?«, dann: »O Gott…« und schließlich: »Wieviel Uhr?«
»Es ist fast Mittag. Ich hab
immer wieder versucht anzurufen, aber du hast nicht abgenommen. Bist du krank?«
Er sah sie nochmals wie durch
einen Nebelschleier an, dann wurde sein Blick schärfer, und er rief aus: »Fast
Mittag! O nein!« Mit einem Ruck saß er kerzengerade da.
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