Der Fluch der Schriftrollen
daß ich schon damals nicht die Absicht hatte, beim
Judentum zu bleiben. Eigentlich konnte ich gar nicht schnell genug davon
wegkommen.«
Er betrachtete Judy mit
trüben Augen. »Wissen Sie was? Ich war immer heimlich froh darüber, daß ich
nicht jüdisch aussehe.«
»Oh, bitte…«
»Es ist wahr. Und keiner
meiner Freunde weiß, daß ich Jude bin. Es ist wie ein streng gehütetes
Familiengeheimnis, wie eine Leiche im Keller, die fault und modert und zum
Himmel stinkt. O Gott!« Er stand unvermittelt auf. »Das ist verrückt! Hier
sitze ich und verrate Ihnen schon wieder meine innersten, dunkelsten Geheimnisse.
Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt wohl denken.«
»Nein, das können Sie nicht«,
entgegnete sie sanft. Ben schaute zu ihr herab. Da war es schon wieder, dieses
sonderbare Verlangen, Judy Golden an seiner Seite zu haben; ein schwacher,
flüchtiger Gedanke, der sich seinem Zugriff entzog, so daß er ihn nicht fassen
konnte. Hatte er sich nicht einmal geschworen, ihr von den nächsten Rollen
nichts zu erzählen? Hatte er sich nicht ganz fest vorgenommen, ihr keine
vertraulichen Mitteilungen mehr zu machen? Doch was war es, fragte er sich
jetzt, welche namenlose Sehnsucht setzte sich über seine Vernunft hinweg und
veranlaßte ihn, sie zum wiederholten Male zu sich zu rufen?
Ben schüttelte abermals den
Kopf. Der Gedanke war verflogen, bevor er ihn greifen konnte. Es hatte etwas
mit David zu tun… Ben wandte sich von ihr ab und begann, mit großen Schritten
durch den Raum zu laufen. Er ging vor Judy auf und ab wie ein Rechtsanwalt vor
den Geschworenen, während sein Geist schon wieder von einem Gedanken zum nächsten
sprang. Diese raschen Stimmungsänderungen waren unkontrollierbar,
unberechenbar. Ben war sich dessen nicht einmal bewußt, aber Judy bemerkte, wie
sein Gesicht sich nach einer angestrengten Überlegung entspannte und sich
gleich darauf wieder in nachdenkliche Falten legte. Ein neuer Gedanke ging Ben
nun im Kopf herum.
»Wissen Sie, seit ich mit der
Übersetzung der Rollen begann, habe ich die unglaublichsten Alpträume. Und wenn
ich wach bin, kann ich meine Gedanken nicht mehr steuern.« Er unterbrach sich
und starrte vor sich hin.
Sie erhob sich und trat ihm
gegenüber. »Vielleicht erinnern die Rollen Sie an Dinge…«
»Natürlich tun sie das!«
platzte er heraus. »Schauen Sie sich doch die ganzen verdammten
Übereinstimmungen an!«
»Nun, es gibt…«
»Ich weiß, es klingt
verrückt, Judy, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß… daß…« Er stürzte wie
wild auf sie zu; sein Mund verzerrte sich, und er vermochte das nächste Wort
nicht auszusprechen.
»Welches Gefühl werden Sie
nicht los?« flüsterte sie. Er biß sich heftig auf die Unterlippe, als ob er
sich selbst am Sprechen hindern wollte. Dann sagte er: »Das Gefühl, daß David
Ben Jona wirklich zu mir spricht.« Judy riß die Augen auf.
»Ich weiß, es klingt
verrückt, aber ich glaube daran! Es ist, als ob David noch immer lebt, als ob
er mir beim Übersetzen über die Schulter schaut.«
Ben drehte sich rasch um und
lief im Zimmer hin und her wie ein in einem Käfig gefangenes Tier. »Und was
noch schlimmer ist, ich habe keine Kontrolle darüber! Wie sehr ich es auch
versuche, David geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Ich ertappe mich bei
Gedanken, die er gedacht haben könnte. Ich schwelge in Erinnerungen an Magdala,
als erinnerte ich mich an meine eigene Kindheit. Ich träume mit offenen Augen
von Rebekka und vom Sommer in Jerusalem. Ich leide unter Gedächtnisschwund. Ich
kann mich nicht daran entsinnen, die Übersetzungen geschrieben zu haben. Ich
vergesse ständig, welche Tageszeit es ist.«
Plötzlich hielt er mitten in
seiner Rede inne. »Sie denken, ich bin verrückt, nicht wahr?«
»Nein, das tue ich nicht.«
»Dann sagen Sie mir, was Sie
davon halten?«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Nun, ich denke, daß die
Rollen bei Ihnen auf die eine oder andere Weise Erinnerungen an Ihre
Vergangenheit wachgerufen haben. Erinnerungen, die Sie lieber vergessen wollten
und die Sie bis heute verdrängen konnten. Vielleicht sind es sogar
Schuldgefühle…«
»Schuld!«
»Sie haben mich doch darum
gebeten, ehrlich zu sein. Ja, Schuld.«
»Weswegen?«
»Wegen der völligen Ablehnung
Ihrer Vergangenheit und Ihres jüdischen Erbes. Als Kind wurden Ihnen
jüdisch-orthodoxe Verhaltensregeln eingeschärft, und dann, ganz plötzlich,
kehrten Sie dem allen den Rücken. Sie haben sich so weit davon entfernt,
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