Der Fluch der Schriftrollen
daß
Sie Juden heute beinahe als eine andere Sorte Mensch betrachten und nicht als
Ihr eigenes Volk. Haben Sie sich eigentlich nie gefragt, warum Sie Ihr Leben
lang danach streben, uralte geistliche Texte zu übersetzen? Sie sind auf der
Suche nach Ihren eigenen Ursprüngen. Indem Sie sich mit hebräischen
Manuskripten befassen, suchen Sie vielleicht nach Ihren eigenen
verlorengegangenen jüdischen Wurzeln«. »Unsinn!«
»Nun, als Sie sich vom
Judentum abwandten, gaben Sie es dennoch nicht vollständig auf, oder? Statt
dessen gingen Sie es von einer anderen Seite an. Jetzt sind Sie der
unbeteiligte Wissenschaftler, der anstelle des Talmudisten die alten Texte
liest. In einer etwas verdrehten Art und Weise haben Sie die Hoffnungen
erfüllt, die Ihre Mutter in Sie setzte – nämlich ein Rabbi zu werden. Indem Sie
als Paläograph arbeiten, dienen Sie zugleich zwei Persönlichkeiten, dem Juden
und dem Nichtjuden.«
»Das ist doch wirklich an den
Haaren herbeigezogen! Ich befasse mich mit alten Manuskripten, weil ich von der
Jeschiwa her gute Voraussetzungen dafür mitbrachte. Ich hätte ein anderes
Sachgebiet wählen können, doch damit hätte ich gute Wissensgrundlagen einfach
verkommen lassen. Sie haben noch immer nicht meine Frage beantwortet: Weswegen
sollte ich Schuldgefühle haben?«
»Also gut, wenn es nicht
wegen des jüdischen Glaubens selbst ist, dann vielleicht wegen Ihrer Mutter.«
»O Gott, meine Mutter! Sie
haben ja keine Ahnung, wie es war, von ihr erzogen zu werden! Tag für Tag zu
hören, daß die Juden die Heiligen auf Erden seien. Daß alle Gojim böse seien.
Um Himmels willen, die Juden haben doch keine Monopolstellung bei der
Verfolgung. Sie waren nicht die einzigen, die in Konzentrationslager deportiert
wurden. Polen und Tschechen und andere Menschen, die die Deutschen als
minderwertig ansahen, wurden vernichtet! Warum zum Teufel müssen wir immer die
leidenden Diener Gottes sein?« Diesen letzten Satz hatte Ben so kraftvoll
ausgestoßen, daß seine Adern an Hals und Schläfen hervortraten. Dann verstummte
er plötzlich, atmete schwer und blickte zu Judy. »Es tut mir leid«, murmelte
er.
Er ging zurück zur Couch und
ließ sich müde darauf fallen. »So bin ich nie gewesen. David fördert wohl alle
in mir aufgestauten Gefühle der Ohnmacht zutage. Es tut mir wirklich leid,
Judy.« Sie setzte sich neben ihn. »Ist schon gut.«
»Nein, ist es eben nicht.«
Ben ergriff ihre Hände und hielt sie ganz fest. »Ich rufe Sie spätabends an,
und dann schreie ich Sie an wie ein Wähnsinniger. Ich weiß wirklich nicht, was
in mich gefahren ist. Ich bin wohl tatsächlich verrückt geworden.«
Judy schaute auf ihre eng
umschlungenen Hände und fühlte, wie eine sonderbare Wärme sie durchströmte.
»Ich bin besessen«, sagte er.
»Ich weiß es, aber ich kann nicht dagegen ankämpfen. David würde es nicht
zulassen.«
Wieder wurde Ben von
merkwürdigen Bildern und entsetzlichen Alpträumen gepeinigt. Gefangen im
Schlaf, war er Zeuge der unglaublichen Greuel im Konzentrationslager, mußte mit
ansehen, wie sein Vater grausam umgebracht und seine Mutter brutal gefoltert
wurde. Die ganze Nacht lang wurde er von Jahrhunderten jüdischer Verfolgung
gequält. Er erlebte mittelalterliche Massaker und Pogrome. Er sah, wie Juden in
rasenden Ausbrüchen christlichen Glaubenseifers dahingeschlachtet wurden.
An einer Stelle erwachte er
zitternd, fiebrig und zugleich eiskalt. Seine Bettwäsche war herausgezerrt und
zu einem Knäuel zusammengedreht. Wankend lief Ben auf den Flur hinaus und
stellte den Thermostat höher. Dann kroch er wieder ins Bett zurück und zog die
Bettdecke über sich. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, und er bebte
derart, daß das Bett wackelte. »O Gott!« stöhnte er. »Was ist nur los mit mir?«
Als er wieder in Bewußtlosigkeit versank, wurde er nur noch stärker von
Alpträumen heimgesucht. Er sah sich unter einem Galgen stehen und auf eine
bösartige, johlende Menge herabblicken. Ein Mann ohne Gesicht stand neben ihm
und rief aus: »Spricht irgend jemand von euch für diesen Mann?«
Und die Menge brüllte zurück:
»Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!«
Als ihm die
Schlinge des Henkers um den Hals gelegt wurde, schrie Ben: »Nein, nein, ihr
habt es falsch verstanden! Matthäus hat das nur erfunden, um Römer zum
Christentum zu bekehren. Die Juden waren nicht verantwortlich!«
Doch die Menge grölte
abermals: »Sein Blut komme über uns und über unsere
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