Der Fluch der Schriftrollen
sie
das?«
Dieser letzte Abschied von
Solomon war einer der schmerzlichsten Augenblicke in Bens Leben gewesen. Und
jetzt, als er sich in seinen Alpträumen verzweifelt auf der Couch wand,
strömten all die quälenden Erinnerungen an Rosa Messer und Solomon Liebowitz zu
ihm zurück.
Im letzten Traum stand Ben
David gegenüber. Der stattliche, bärtige und fein gekleidete Jude sagte in
Aramäisch: »Du bist ein Jude, Benjamin Messer, ein Mitglied von Gottes
auserwähltem Volk. Es war falsch, dein eigenes Volk durch deine Feigheit im
Stich zu lassen. Dein Vater ist im Kampf für die Würde der Juden gestorben.
Doch du würdest davor Reißaus nehmen, als handelte es sich um etwas Unreines.«
»Warum verfolgst du mich?«
schrie Ben im Schlaf. »Ich verfolge dich nicht. Du verfolgst dich selbst.
Kapitel siebenundzwanzig, Vers fünfundzwanzig.«
Das Klingeln des Telefons riß
ihn aus dem Schlaf. Er hob völlig verwirrt ab. Am anderen Ende hörte er Dr.
Cox’ Stimme klar und deutlich. Es war Nachmittag, und Ben war schon zum dritten
Mal nicht zum Unterricht erschienen. Was stimmte nicht? Ben hörte sich selbst
als Entschuldigung irgend etwas von Krankheit murmeln. Dann vereinbarte er mit
Professor Cox, sich um fünf Uhr in dessen Büro mit ihm zu treffen. Ob er denn
persönliche Probleme habe, ob ein Lehrer als Vertretung nötig sei… »Das sieht
dir ja überhaupt nicht ähnlich, Ben…«
»Ja, ja, danke. Bis um fünf
dann.«
Ben legte auf
und wandte sich ruckartig vom Telefon ab. Ein leichter Schmerz rumorte in
seinem Kopf und ein noch größerer in seinem Magen. Ohne richtig darüber
nachzudenken, lief er schnurstracks in die Küche und durchstöberte die Schränke
nach etwas Eßbarem.
Schließlich fand er eine
Büchse mit Suppe, leerte sie in einen Topf, stellte den Topf auf den Herd und
verließ die Küche. Ihm war so schlecht wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es
überstieg körperliches Unbehagen bei weitem, denn die Gründe für diese Übelkeit
waren in den Abgründen seiner Seele zu suchen. Ben fühlte sich durch und durch
krank, gequält von den gräßlichen Alpträumen, die ihn verfolgten.
Er ließ sich auf die Couch
zurückplumpsen und starrte wie betäubt vor sich hin. Er war unglaublich müde.
Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte noch etwa eine Stunde bis zur
Postzustellung an – noch eine Stunde, bevor er wieder in Jerusalem sein, in
Davids Haut schlüpfen und der Gegenwart entfliehen konnte. Eine qualvolle
Stunde des Wartens auf die nächste Rolle, wenn es überhaupt eine solche geben
würde. War Weatherby am Ende angelangt? Ben rieb sich mit den Fäusten die
Augen. Irgendwann letzte Woche hatte Weatherby ihm mitgeteilt, er habe vier
weitere Rollen gefunden. Wann war das gewesen? Hatte Ben sie etwa schon
gelesen? »O Gott, bitte nicht«, flüsterte er. »Mach, daß die Rollen nicht eher
enden, als bis ich sie alle gelesen habe. Ich muß herausfinden, was David mir
sagen will. Ich muß wissen, warum er gerade mich auswählte.«
Die Stunde verbrachte Ben
träumend im Jerusalem der Antike. Er schloß die Augen, legte den Kopf nach
hinten und glitt sanft in eine andere Welt hinüber. In West Los Angeles fiel
grauer Regen, doch in Jerusalem war es heiß und sonnig. Die Straßen waren
staubig und erfüllt von dem ständigen Summen der Fliegen. Hunde schliefen im
spärlichen Schatten, und die Bettler waren nirgends zu sehen. Ben ging zusammen
mit seinem Freund David spazieren. Sie gingen auf das Tor zu, das zu den Gärten
jenseits der Stadt führte. Sie würden der Straße nach Bethanien folgen, den
Kidron überqueren und den alten Händler auf dem Ölberg besuchen. Vielleicht
würden sie auch im Schatten eines Olivenbaumes etwas Wein trinken und die
müßigen Stunden ungestört mit Scherzen und Lachen verbringen. Es war ein gutes
Gefühl, einen Nachmittag mit David zu verleben, und Ben kehrte nur ungern in
die Wirklichkeit zurück. Nur aus einem Grund tat er es dennoch. Der Postbote
würde bald vorbeikommen. Mit einem Satz erwachte er plötzlich wieder zum Leben,
stürmte zum Garderobenschrank und zog hastig eine Jacke daraus hervor. »Okay,
David, mein Freund. Nun wollen wir hoffen, daß du mich nicht enttäuschst.«
Er sprang die Stufen hinunter
und blieb jäh vor den Briefkästen stehen. Ein kurzer Blick ergab, daß die Post
noch nicht dagewesen war. So ließ er sich auf den kalten, feuchten Stufen
nieder und wartete. Fünfzehn Minuten vergingen. Ben war außer sich vor
Ungeduld. Er
Weitere Kostenlose Bücher