Der Fluch der Schriftrollen
ein und
schloß leise die Tür hinter sich.
Die Wohnung war dunkel und
kühl. In der Luft hing unverkennbar der Geruch nach Alkohol. Judy bemühte sich,
etwas zu sehen. Als plötzlich etwas Warmes ihr Bein berührte, stockte ihr der
Atem. »Oh, Poppäa!« rief sie. »Hast du mich vielleicht erschreckt!« Judy nahm
die Katze auf den Arm und ging weiter in die Wohnung. Ben lag auf dem
Wohnzimmerboden, neben einer leeren Weinflasche und einer leeren
Scotch-Flasche. In unmittelbarer Nähe lag ein umgestoßenes Glas, inmitten eines
roten Flecks auf dem Vorleger. Judy kniete sich neben ihn und schüttelte ihn an
der Schulter. »Ben? Ben, wachen Sie auf.«
»Hm? Was gibt’s?« Sein Kopf
rollte von einer Seite auf die andere. »Ben, ich bin’s, Judy. Ist alles in
Ordnung?«
»Ja…«, lallte er. »Is schon
gut…«
»Ben, wachen Sie auf. Es ist
spät. Kommen Sie schon.« Er hob zitternd eine Hand und faßte sich an die Stirn.
»Fühl mich hundeelend…«, stammelte er. »Ich glaub’, ich sterbe…«
»Heda«, flüsterte sie, »so
schnell stirbt man nicht. Aber Sie müssen aufstehen. Wie sieht es hier aus!«
Endlich schlug Ben die Augen
auf und versuchte, sie anzusehen. »Es war Davids Schuld, wissen Sie?« brachte
er undeutlich hervor. »Er hat mich dazu getrieben. Ich habe zwei Stunden lang
am Briefkasten gewartet, aber die Rolle ist nicht gekommen! Das hat er
absichtlich getan. Er beobachtet mich, Judy. Die ganze Zeit über. Egal, was ich
tue, dieser gottverdammte Jude steht immer neben mir.«
»Stehen Sie bitte auf.«
»Oh, wozu soll das gut sein?
Es gibt keine Rolle. Wie soll ich das heute nacht und morgen nur durchstehen?«
»Seien Sie unbesorgt. Ich
werde Ihnen helfen. Los jetzt.« Sie schob einen Arm unter seine Schultern und
half ihm, sich aufzusetzen. Dabei schaute Ben in ihr Gesicht, das so dicht an
dem seinen war, und murmelte: »Wissen Sie, früher fand ich nicht, daß Sie
hübsch seien, aber jetzt sehe ich es.«
»Danke. Meinen Sie, Sie
können aufstehen?«
Er umklammerte seinen Kopf
mit den Händen und schrie: »David Ben Jona, du bist ein niederträchtiger
Halunke! Ja… ich denke, ich kann aufstehen.«
Judy stöhnte, als sie Ben auf
die Beine half. Es gelang ihr, ihn ins Badezimmer zu führen, wo sie das große,
helle Licht einschaltete und ihn mit fester Stimme anwies, sich unter die
Dusche zu stellen. Er gehorchte ohne Widerspruch. Als er sich auszog, drehte
Judy das Wasser auf und ließ ihn dann allein. Im Schlafzimmer fand sie Kleider
und Wäsche zum Wechseln, reichte sie ihm durch die Badezimmertür hinein und
rief: »Lassen Sie sich nur Zeit!« Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und
brachte es, so gut sie konnte, in Ordnung. Als Ben eine halbe Stunde später
wieder herauskam, sah er etwas besser aus. Er sagte kein Wort, als er zur Couch
hinüberging, sich setzte und anfing, den starken Kaffee zu trinken, den sie für
ihn bereitgestellt hatte. Fünf lange Minuten vergingen, bis er endlich zu ihr
aufsah. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich leise. »Ich weiß.«
»Ich weiß einfach nicht, was
mit mir los ist. Ich habe nie zuvor so etwas getan. Ich blicke einfach nicht
mehr durch.« Wie er so dasaß und den Kopf schüttelte, versuchte Judy sich
vorzustellen, was er durchmachte. Sie sah sein gealtertes, blasses Gesicht mit
dem Stoppelbart und fragte sich, wie es wohl für einen Menschen sein mußte,
wenn man ihm plötzlich seine Identität aus dem Leibe reißt und ihn ohne
irgendeinen Ersatz einfach stehenläßt. Ohne irgend etwas Greifbares, nur mit
entsetzlichen Erinnerungen. »Ich erinnere mich«, begann er mit belegter Stimme,
»ich erinnere mich noch genau daran, wie meine Mutter und ich am Schabbes im
Dunkeln saßen, und wie sie mir immer und immer wieder einschärfte; ›Benjy,
deine Aufgabe ist es, unter den Juden ein Führer zu sein. Dein einziger
Lebensinhalt muß darin bestehen, ein großer Rabbiner zu werden und die Juden zu
lehren, die Thora als Schutzschild zu benutzen.‹«
Er zwang sich zu einem
trockenen Lachen. »Sie hatte immer nach Eretz Israel gehen wollen, doch statt
dessen war sie in die Vereinigten Staaten gekommen. Sie sprach ständig davon,
eines Tages mit ihrem Sohn, dem berühmten Rabbiner, nach Israel auszuwandern.«
Er starrte nachdenklich in seinen schwarzen Kaffee. »Ich habe den Teppich
bestimmt verhunzt, nicht wahr?«
Judy schaute auf den großen
Weinfleck, der den Teppich verunstaltete. »Mit Shampoo müßte man den Flecken
schon
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