Der Fluch der Schriftrollen
es auch nicht auf Kosten anderer Juden erworben.
Aus diesen Gründen war mein Handeln in Eleasars Augen gerechtfertigt.
Am nächsten Morgen begab ich
mich für eine Besorgung abermals in die Stadt. In den acht Monaten, die seit
meiner Schmach vergangen waren, hatte ich nicht für einen Augenblick die Frau
namens Miriam vergessen, die ich beim Brunnen getroffen hatte und die mich mit
nach Hause genommen hatte, um mir Nahrung zu geben und Zuflucht zu gewähren.
Vor acht Monaten hatte sie mich aus Frömmigkeit und Nächstenliebe mit einem
vollen Bauch und einigen Münzen in der Tasche meiner Wege ziehen lassen. Sie
hatte mich auch von dem Gedanken an einen Selbstmord abgebracht. Heute würde
ich in ihr Haus zurückkehren und sie für ihre Güte belohnen. Sie erkannte mich
sofort und forderte mich auf einzutreten. Eine der vielen Frauen, die in diesem
Haus wohnten, wusch mir die Füße und gab mir Brot und Käse. Als ich meinem
Erstaunen über diese Behandlung Ausdruck verlieh, meinte Miriam: »Wir heißen
einen zurückkehrenden Bruder stets willkommen.«
»Bin ich Euer Bruder?« fragte
ich sie. Und als Antwort küßte sie mich auf die Wange. Als ich ihr den Beutel
mit fünfundzwanzig Zuzim überreichte, nahm sie ihn in aller Bescheidenheit
entgegen und versicherte mir, das Geld werde der Speisung vieler zugute kommen.
»Habt Ihr eine so große
Familie?« fragte ich. Sie erwiderte: »Alle, die auf die Rückkehr des Meisters
warten, gehören zu meiner Familie.«
Als ich noch mehr wissen
wollte, hielt sie mich zurück und bat mich, noch ein Weilchen zu bleiben. Denn
in Kürze werde ein Mann kommen, der meine Fragen beantworten könne. Und so kam
es, daß mein Leben zum vierten Mal eine Wende nahm. Ich wartete in Miriams
Haus, bis ein Mann namens Simon heimkam.
Judy ließ die Blätter fallen
und sah Ben an. Sie rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Aber in
ihren Augen drückte sich alles aus, was in ihr vorging.
»Wir können das wohl nicht
vor der Presse bewahren, oder?«
»Wenn das erst mal
durchgesickert ist…«
»O Gott!« rief Ben plötzlich aus.
»Warum muß das sein? Warum mußte das herauskommen?« Ben sprang auf und ballte
die Fäuste. »Ist dies Teil deines Plans, David? Siehst du nicht, wie sehr es
mich quält?«
Ben verstummte und starrte
auf die gegenüberliegende Wand. Er atmete schwer. In seinen Augen lag etwas,
das an Wahnsinn grenzte, eine Mischung aus Verwirrung und Wut. Dann, nachdem er
einen Augenblick die Wand angestiert hatte, ließ Ben plötzlich seinen Kopf auf
die Brust fallen, so daß er in Gebetshaltung oder wie ein reuiger Sünder
dastand.
Als er sich schließlich
aufrichtete und sein Blick auf Judy fiel, sagte er mit dumpfer Stimme: »Ich
kann ihn sehen… aber Sie können es nicht.«
Fassungslos starrte Judy ihn
an.
»Ja, hier ist er wieder.
David Ben Jona. Eigentlich war er schon eine ganze Weile hier, nur war ich mir
dessen bis gestern nicht bewußt. Er zeigte sich nicht, bis er sicher sein
konnte, daß ich verstünde, warum er hier ist.«
Judys Blicke
glitten über die blanke Wand und versuchten, die Erscheinung ausfindig zu
machen, die aber nur Ben Messer zu sehen vermochte. »Wie könnte es möglich
sein, daß er…«
»Ich weiß nicht, Judy. Es ist
mir noch immer nicht ganz klar. Alles, was ich weiß, ist, daß der Geist David
Ben Jonas hier an meiner Seite ist und daß er aus irgendeinem Grund…« – seine
Stimme klang plötzlich belegt –, »daß er aus irgendeinem Grund zurückgekommen
ist, um mich heimzusuchen.« Judy sprang auf. »Aber warum sollte er?«
»Ich weiß nicht.« Bens Stimme
wurde schwächer. Er sprach in einem matten, gleichbleibenden Ton. »Aus
irgendeinem Grund will David, daß ich seine Geschichte kenne. Er will, daß ich
erfahre, was ihm passiert ist. Vielleicht hat es etwas mit dem Fluch Mose zu
tun. Vielleicht ist es, weil sein Sohn die Rollen niemals zu lesen bekam. Wie
kann ich das wissen? Alles, was ich weiß, ist, daß seine Wahl auf mich fiel.«
O Ben, dachte Judy außer
sich, es ist weder der Fluch noch Davids Sohn und auch nicht David selbst!
Kannst du das nicht begreifen? Es ist deine eigene Vergangenheit, die dich
verfolgt! Ben hielt Judys Blick eine schier endlose Weile stand. Er starrte
durch die Stille wie hypnotisiert in ihre Augen. Verkehrslärm drang von der
Straße herauf, eine Fahrradklingel läutete hell, kreischende Kinderstimmen
ließen sich vernehmen. Aber weder Ben noch Judy nahmen diese Geräusche
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