Der Fluch des Andvari (German Edition)
durfte. Ein Wort gab das andere. Bis Kriemhild Brünhild schließlich demütigte, als sie ihr jenen Gürtel zeigte, den Siegfried Brünhild in der Hochzeitsnacht abgenommen hatte, als er an König Gunters statt das Ehebett bestiegen und ihr den Gürtel entrissen hatte, da Gunter Brünhilds Zauberkraft nicht bezwingen konnte. Kriemhild prahlte damit und warf Brünhild vor, dass Siegfried sie als erste gefreit hätte, womit Brünhild eine Nebenfrau wäre und nannte sie verächtlich eine Kebse ... die schlimmste Beleidigung, die es im Mittelalter für eine Frau gab. Der Rest der Geschichte ist bekannt.“
„Die Brüder des Königs forderten Buße für die Schmach ihrer Königin“, fuhr Beate fort. „So kam es letztendlich, dass sie Siegfrieds Tod beschlossen. Hagen führte das Mordkomplott aus und beschwor damit den Untergang der Burgunder herauf. Kriemhild aber schwor nun ihrerseits Rache und verbündete sich mit den Hunnen, die sie gegen ihre Brüder aufwiegelte. Niemand überlebte dieses blutige Gemetzel.“
„So erzählt das Nibelungenlied“, pflichtete Hannah bei. „Die Historie lehrt uns jedoch eine andere Geschichte. Es ist sogar umstritten, ob Worms tatsächlich die Hauptstadt dieses frühen Burgunderreichs gewesen ist. Immerhin siedelten sie nur etwa dreißig Jahre am Rhein, bevor sie um 440 von den Galliern und Hunnen geschlagen wurden.“
Nachdenklich glitt ihr Blick über die Tafel. Mythologie, Legende und Realität waren sehr komplex und flossen ineinander über.
„Die wahre Geschichte werden wir wohl nie erfahren“, stellte Beate fest.
„Vielleicht“, murmelte Hannah. „Eines ist jedenfalls real ... die Bedrohung durch Brünhild. Das zeigt uns, dass nicht alles bloßer Mythos ist, was wir über die Nibelungen wissen. Sie hat existiert.“
„Okay, dann lass uns sehen, ob wir es herausfinden“, forderte Beate.
Hannah sah ihre Freundin ernst an, bevor ihr Blick zur Portaltür schweifte. Es war in der Tat ein mystischer Ort. Würde sich ihnen die geheimnisvolle Aura dieser Stätte offenbaren? Fast 1500 Jahre waren seit jenem legendären Streit der Königinnen vergangen.
Erwartungsvoll betrat Hannah den Dom. Orgelmusik erfüllte das Innere. Der Duft von verbranntem Wachs hing in der Luft. Gläubige saßen in den Kirchenbänken, gedachten in Stille, lauschten der Musik. Dazwischen mischten sich die Touristen, Blitzlichter zuckten. Innerlich berührt sah sich Hannah um. Links erhob sich der romanische Ostchor mit dem prächtigen, barocken Altar aus dem 18. Jahrhundert. Auf der rechten Seite zeigte sich der ebenfalls imposante Westchor. Die Länge des Mittelschiffs maß über 100 Meter, was durch die hohen Säulen noch gewaltiger wirkte, als es von außen den Anschein hatte. Der katholische Einfluss war überall erkennbar. Seitenaltäre mit Gedenkkerzen, Marienstatuen und Kirchgänger, die sich beim Verlassen der Bänke bekreuzigten.
Hannah erreichte mit Beate den Westchor. Julia lief irgendwo umher. Zwei Steinplatten zeichneten sich im Boden ab, eine war mit einer niedrigen Absperrung eingesäumt und kennzeichnete das Scheingrab des Erbauers des Doms. Noch immer erfüllte Orgelmusik das Innere. Hannah wandte sich um. Ein beeindruckender Anblick. Der prunkvolle Ostchor schien unendlich weit entfernt, dazwischen erstreckte sich das tiefer gelegene Mittelschiff mit den Holzbänken. Die Säulen schienen in den Himmel zu wachsen.
Langsam stieg Hannah die flachen Stufen hinunter, blickte sich forschend um. Touristen wanderten überall umher, flüsterten miteinander, fotografierten. Immer weiter ging Hannah in das Mittelschiff hinein. Sonnenstrahlen brachen sich durch die Fenster hoch oben, tanzten an den Säulen, über die Bänke. Blitzende Lichtteilchen zeigten sich darin.
„Hannah“, ertönte jäh die sanfte Stimme einer Frau.
Sie nahm es zunächst nicht wahr; die Orgelmusik hatte sie gefangen.
„Hannah. Komm zu mir.“
Vor dem Altar zeichnete sich eine hoch gewachsene Frau in einem strahlenden Lichtkranz ab. Sie trug wallende, violette Gewänder. Langes, blondes Haar floss ihr bis auf den Rücken. Ihre Wimpern und Augenlider waren mit blauer Tusche betont. Eine kleine, runde Krone bedeckte ihr Haupt. Die Frau aus meinen Visionen, überkam es Hannah. Ein Zittern erfasste ihren Körper. Die Frau hatte ihre Arme ausgestreckt, als wollte sie Hannah willkommen heißen. Etwas Gütiges lag in ihrem Ausdruck, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihre tiefblauen Augen strahlten verlockend. Trotz
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