Der Fluch des Andvari (German Edition)
geparkt, in unmittelbarer Nähe der Ostseite des Doms. Es war nicht ihr erster Besuch in dieser Stadt, doch das erste Mal, dass sie nicht als Tourist kam, wie all die anderen vielen Menschen an diesem 1. Mai. Vielleicht würde sich hier und heute das Schicksal der Menschheit entscheiden.
Erwartungsvoll ging sie mit ihrer Tochter die Straße hinauf. Dabei bot sich ihr ein guter Blick auf das sakrale Bauwerk, das sich hinter den Wohn- und Geschäftshäusern erhob. Der Sandstein war dunkel durch den Ruß der Jahrhunderte. Der Dom wirke in seiner Form eher gedrungen, nicht vergleichbar mit der filigranen Eleganz gotischer Kathedralen. Es war ein spätromanischer Bau mit seinen typisch schlichten Elementen und klaren Formen.
Hannah ging zunächst zum Nordportal und schaute sich nach Beate um. Die Frau wartete bereits, lehnte an der steinernen Umfassungsmauer des Vorplatzes. Heute trug sie ein luftiges, buntes Sommerkleid mit einer leichten Strickjacke darüber und einen Strohhut. Bei ihrem Anblick begann Hannahs Herz schneller zu schlagen.
Beate strahlte. „Hallo, Hanni. Schön dich zu sehen.“
Sie vermied bewusst eine intime Umarmung, küsste sie lediglich auf die Wange.
Hannah war hin- und hergerissen. „Ich freue mich auch, Bea.“
„Hallo, Prinzessin“, wandte sich Beate an Julia. Dann erneut zu Hannah: „Wie geht es dir?“
„Besser ... jetzt, wo du da bist.“
Beates Augen glitzerten hinter der großen Sonnenbrille. Ein inniger Kuss würde ihnen beiden sicherlich die nötige Stärke geben. Hannah spürte das Kribbeln in ihrem Körper. Sie konnte ihren Gefühlen nicht länger widerstehen. Sanft nahm sie Beate in die Arme und drückte sie an sich, streichelte ihr liebevoll über den Rücken. Beate tat es ihr gleich. Noch war es keine verfängliche Situation, sie wollte nur die Nähe ihrer Freundin spüren. Es gab ihr Halt.
„Jetzt passe ich auf dich auf, Hanni“, flüsterte Beate.
Hannahs Unruhe wich einer gewissen Verzauberung. Sie fühlte sich geborgen in Beates Armen. Julia hatte sich inzwischen abgewandt und war zu dem Eingangsportal gelaufen.
„Jetzt musst du mir erst erzählen, was vergangene Nacht passiert ist“, begann Beate. „Jochen war völlig außer sich.“
Hannah atmete einmal tief durch, bevor sie Beate von den schrecklichen Ereignissen auf dem Gehöft berichtete.
„Das war wirklich schlimm für dich“, bestätigte Beate anschließend betroffen.
„Aber da ist noch etwas, das du wissen musst“, entgegnete Hannah stockend. „Dein Vater ...“
„Was ist mit meinem Vater?“
„Ich ... ich habe auch seine Stimme gehört. Er hat sich mit meinem Vater unterhalten.“
Beate schaute sie perplex an.
„Es tut mir leid, Bea“, ergänzte Hannah schnell.
„Nein, du kannst nichts dafür“, erwiderte sie gedankenverloren, blickte sich verwirrt um. „Ich hätte nicht gedacht - bist du wirklich sicher?“
Hannah nickte. „Ja. Er ist ein Verbrecher, genau wie mein Vater.“
„Jetzt weiß ich auch, warum er gestern Abend noch nicht zurück wollte.“
„Wie?“
„Wir sind erst heute Morgen geflogen. Er hatte gestern Abend noch einen geschäftlichen Termin ... so sagte er mir. Weißt du, was das bedeutet?“
„Was?“
„Dass mein ganzes Leben eine Lüge ist. Der Verlag, der Erfolg ... all das ist jetzt bedeutungslos. Und ich? Wie kann ich meinem Vater je wieder in die Augen schauen?“
„Oh, Bea.“ Spontan nahm Hannah sie in die Arme. „Ich empfinde genauso. Aber wenn wir zusammen bleiben, schaffen wir es.“
„Ja, das werden wir. Wenn das alles vorbei ist, werden wir irgendwo ganz neu anfangen.“
„Das wäre wunderbar.“
Sie hielten sich beide noch einige Zeit an den Händen.
Bis Hannah sich sanft löste und sagte: „Lass uns in den Dom gehen und schauen, ob wir irgendeinen Hinweis finden.“
Beate nahm den kleinen Rucksack auf, der neben ihr stand und folgte ihr. Julia wartete am Portal und betrachtete die dort angebrachte Tafel. Die Inschrift erzählte von dem berühmten Streit der beiden Nibelungenköniginnen, der hier stattgefunden haben sollte.
„Was war das für ein Streit?“, fragte das Mädchen.
„Das ist ein legendärer Ort, in der Tat“, begann Hannah langsam. „Hier soll sich zugetragen haben, was im Nibelungenlied der Auslöser für Siegfrieds Tod gewesen ist. Am Morgen des Osterfestes trafen die beiden Königinnen Brünhild und Kriemhild vor dem Dom zusammen und stritten darüber, wer von ihnen beiden als erste die Kirche betreten
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