Der Fluch des Andvari (German Edition)
Wasser ein. Hannah war gespannt. Ihre Eltern legten viel Wert auf Pünktlichkeit.
Nach dem Duschen schlenderte Hannah durch den Korridor zur Eingangshalle. Sie fühlte sich wohl, genoss die prickelnde Frische, die ihren Körper umklammerte. Jetzt ein ausgiebiges Frühstück und der Tag würde gut werden. Auf dem Weg zum Speisezimmer kam sie am Arbeitszimmer vorbei. Die Tür war angelehnt, Stimmen drangen aus dem Raum. Es waren ihr Vater und Rogatus, die sich unterhielten.
„Du weißt, was du zu tun hast?“, hörte sie ihren Vater sagen.
„Ja, Reinhold.“
„Geh kein Risiko ein. Wenn du glaubst, bemerkt zu werden, dann ziehst du sich sofort zurück. Verstanden?“
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
Über was sprachen die beiden?, fragte sich Hannah. Es klang schon recht konspirativ. Aber was hatte Rogatus, ein Hausdiener, damit zu tun? Leise schlich Hannah näher heran, spähte in den Raum. Ihr Vater stand hinter dem Schreibtisch. Rogatus wandte ihr den Rücken zu.
„Nur zur Sicherheit“, fuhr ihr Vater fort. „Für alle Fälle.“
Er nahm etwas aus der Schublade und gab es Rogatus. Es ging sehr schnell, doch für einen Augenblick glaubte Hannah, den Gegenstand erkannt zu haben. Eine Pistole! Ihr stockte der Atem. Das konnte nicht sein, sie musste sich getäuscht haben. Was wollte ihr Vater mit einer Waffe? In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Mehrmals hatte Hannah ihren Vater in den vergangenen Monaten bei zweideutigen Situationen ertappt. Telefonate, die er abrupt beendete, wenn er sich beobachtet fühlte, Treffen mit fremden Männern, die hinter verschlossenen Türen stattfanden. Was verbarg er vor seiner Familie? Nie hatte Hannah mit ihm über dieses sonderbare Verhalten gesprochen.
Jetzt nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte kurz an der Tür, bevor sie den Raum bewusst beschwingt betrat. „Guten Morgen, zusammen. Na, Paps, hast du gut geschlafen?“
Beide Männer sahen sie für einen Moment überrascht an. Hannah lächelte, während sie sich näherte. Rogatus wich zurück.
„Guten Morgen, Hanni“, entgegnete ihr Vater freudig.
Ihm war keine Verlegenheit anzumerken. Hannah musterte Rogatus mit schnellem Blick. Den Gegenstand, den er erhalten hatte, konnte sie in den Taschen seines Livree nicht ausmachen.
Sie hauchte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. „Wollen wir zusammen frühstücken gehen, Paps?“
„Du scheinst ja große Sehnsucht nach mir zu haben, wenn du mich schon in meinem Arbeitszimmer abholst.“
„Ich möchte gerne jede Minute mit dir genießen, die sich bietet.“
Ihr Vater lächelte. „Du bist lieb, Hanni. Das erwärmt mein Herz.“
„Musst du denn Kälte fürchten?“, fragte sie vorsichtig.
Daraufhin lachte er. „Nein, überhaupt nicht. Ich habe Rogatus nur gebeten, heute Abend Augen und Ohren ein wenig offenzuhalten, wenn der Besuch eintrifft … wie du sicherlich gehört hast.“
„Nein“, entgegnete sie hastig. „Du weißt, ich lausche nicht, Paps.“
„Ja, genau“, erwiderte er fröhlich. „Dann lass uns frühstücken gehen.“
„Aber wenn du es schon erwähnst … wer kommt denn heute Abend zu Besuch?“
„Ich habe einige Freunde aus dem Vorstand zum Essen eingeladen. Nichts besonderes, ein Smalltalk in kleiner, geselliger Runde.“
„Du kannst es einfach nicht lassen, Paps“, scherzte sie.
Statt einer Erwiderung legte er behutsam seinen Arm um ihre Taille und führte Hannah aus dem Zimmer. „Mein immer fürsorgliches Mädchen. Du wirst dich nie ändern.“
„Du wirst dich auch nicht ändern, Paps.“
Sie lachten beide.
Die Erklärung ihres Vaters war einleuchtend für Hannah. Es schien ihr nicht ungewöhnlich, wenn er seinen Diener bat, auf die Gespräche der Geschäftsfreunde zu achten. Vielleicht verbarg sich ja doch der eine oder andere abtrünnige Gedanke in den Worten. Und die Pistole, die sie glaubte, gesehen zu haben, war Einbildung gewesen. Sie war ein Produkt ihrer überreizten Fantasie. Es war mit Sicherheit ein Diktaphon. Ihr Vater war ein ehrenvoller Geschäftsmann.
Am frühen Nachmittag hatte Kommissar Röwer sein Ziel erreicht: die Ronneburg bei Langenselbold, eine Wehranlage aus dem 16. Jahrhundert. Majestätisch thronte die Burg auf einem Hügel.
Endlich hatte er genügend Ansatzpunkte. In dem Bankschließfach hatte er das Dossier seines Onkels gefunden. Darin waren alle Erkenntnisse über die einzelnen Fälle zusammengetragen. Kopien aus Untersuchungsakten, handschriftliche Notizen, Verhörprotokolle,
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