Der Fluch des Andvari (German Edition)
sie einen dunkelblauen Hosenanzug. Thor fuhr auf seinem Sessel herum. Er war der einzige innerhalb des Ordens, dem sich Brünhild bewusst in ihrer menschlichen Gestalt zeigte. Für die anderen Mitglieder erschien sie ausschließlich in ihrer nordischen Tracht, mit geflochtenem Haar und stark geschminktem Gesicht. Nur so konnte sie sich unerkannt bewegen und ihre eigenen Wege gehen.
„Du wirkst bekümmert, lieber Freund“, sprach sie sanft. „Sag, was betrübt deine Seele?“
„Die Welt wird sich verändern.“
Sie musterte den Mann. „Das tut sie bereits seit Tausenden von Jahren. Alles ist vergänglich ... Ruhm, Macht, Menschen.“
„Nur die Götter nicht. Sie leben ewig. Genau wie du, Brünhild.“
„Ich bin keine Göttin“, entgegnete sie zornig, „nicht mehr, seit Odin mich verstoßen hat.“
Thor wollte etwas erwidern, doch das Telefon klingelte. Sein Internetpartner meldete sich. Rasch wandte er sich um und baute die Verbindung auf. Ein zusätzliches Fenster erschien auf dem PC-Monitor.
Brünhild erkannte sechs Männer, die an einem ovalen Tisch saßen. Da der Raum abgedunkelt war, lagen ihre Gesichter im Schatten verborgen.
„Ich grüße Sie, Zeus“, sprach Thor in Englisch. „Mein Gruß gilt auch allen anwesenden Brüdern.“
Zeus war der Großmeister der europäischen Orden und Geheimbünde. Ein ambitionierter Italiener, dessen Unternehmungen weit über die Landesgrenzen hinaus reichten.
„Willkommen in unserem Kreis, Meister Thor“, erwiderte Zeus. „Ein ebenso herzliches Willkommen Ihnen, Signora Brünhild.“
„Vielen Dank“, antwortete sie mit einem betont fröhlichen Ton und setzte sich auf den Stuhl neben Thor.
„Nun ist unser Kreis geschlossen“, stellte Zeus fest. „Lassen Sie uns gleich mit dem ersten Tagesordnungspunkt beginnen ... der politischen Lage im Nahen Osten.“
Auf dem PC-Monitor erschienen mehrere Bilder und Zeitungsausschnitte. Zeus begann, die Darstellungen näher zu erläutern.
Währenddessen schweiften Brünhilds Gedanken ab, sie interessierte sich nicht für die Unterredung der Anwesenden. In den vergangenen 100 Jahren seit ihrer Wiedererweckung hatte sie viele Menschen getroffen. Reiche wie Arme, Visionäre wie Verrückte, Aristokraten wie einfache Leute. Alle suchten sie Glück und Reichtum, kämpften um Macht und Einfluss. Aber alles war vergänglich, die Menschen starben, sie waren nichts im Tod. Seit Brünhild aus Walhall verstoßen worden war, musste sie das Leid der Menschen mitverfolgen. Sigurd oder Siegfried, wie die Menschen ihn nannten, der stolze Sohn des Dänenkönigs und Hüter eines unermesslichen Schatzes, hatte am Anfang gestanden. Er hatte sie aus der Flammenburg gerettet, wo Odin sie Hunderte von Jahren schlafend gebannt hatte. Auf ihrem Schloss hatten sie sich ewige Treue geschworen und als Beweis hatte er ihr den Ring Andvaranaut geschenkt - den Ring der Nibelungen. Doch Sigurd verriet sie an einen anderen König, in dessen Dienste er trat. Neid kam auf, um die Macht und das Gold. Der Streit wehrte nicht lange und Sigurd war tot. Der Schatz war ihm zum Verhängnis geworden. Es folgte eine grausige Familienfehde, die in einem Blutbad endete. Aber der Fluch des Ringes hatte Brünhild in grausamer Weise getroffen, als sie sich aus Schmerz um Sigurds Tod selbst töten wollte. Sie wurde zu einem Schattenwesen, einer Wanderin zwischen den Welten. Sie war verflucht zum Dasein, konnte weder sterben noch leben. Als Untote wurde sie dafür von den Menschen verfolgt und geächtet. Schließlich gefangen in ihrem Sarkophag, zur Untätigkeit verdammt, erlebte sie Zeitalter um Zeitalter. Nichts schien sie zu erlösen in dieser ewigen Dunkelheit. Bis zu jenem Tag, als die Gier nach dem Gold zwei Schatzjäger an ihr Grab trieb. Seitdem war sie dem Leben wieder näher als dem Tod. Eine Schar von Männern hatte sich um ihre Person versammelt, verehrte sie, huldigte ihr, hielt ihr Geheimnis verborgen in der Hoffnung auf den unermesslichen Schatz.
Brünhild genoss ihre neue Freiheit, konnte wieder atmen und fühlen. Aber für sie galt es vor allem, den Fluch des Ringes zu lösen. Die Ziele des Ordens interessierten sie nur unwesentlich; die Weltherrschaft, die Thor und seine Männer anstrebten, war ohne den Schatz nicht zu realisieren – genauso wenig wie ihre Erlösung von dem Fluch. Sie waren zum Erfolg verdammt.
„Als nächsten Bruder bitten wir Meister Thor um seinen Bericht“, vernahm Brünhild die Worte von Zeus. „Wie steht es mit dem
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