Der Fluch des Andvari (German Edition)
Wolff.
Die Totengräber hatten der Frau die Hände über der Brust zusammengelegt. Die Finger wirken knöchern, aber die Haut ist noch überall erhalten. Schmuck trägt sie keinen, aber Wolff glaubt, am rechten Ringfinger den Abdruck eines fehlenden Ringes zu erkennen. Ohne Hast fasst er nach der Hand. Sie ist unerwartet schwer. Er stockt einen Moment. Sein Blick gleitet zum Gesicht der Frau. Ihre Augen sind geschlossen und in die Höhlen eingefallen. Ein Lächeln scheint ihre Lippen zu umgeben. Alles nur Aberglaube, denkt er, als er sich an den Fluch erinnert, der auf dem Ring lasten soll. Entschlossen fasst er ihre Hand, spreizt die Finger. Dann schiebt er langsam den Ring darüber. Seine Anspannung wächst. Schließlich sitzt der Ring fest. Aber nichts geschieht. Verwirrt legt Wolff die Hand auf die Brust zurück.
„Was jetzt?“, bricht einer der Männer die Stille.
„Ich weiß es nicht“, gibt er verwirrt zurück.
Er stützt seine Hände auf den Rand der Sargwanne und betrachtet den Leichnam. In seinem Kopf jagen sich die Gedanken. Er sieht nach dem Professor. Schweigend starren sich die beiden Männer an.
Plötzlich schießen Lichtblitze aus dem Sarkophag heraus.
„In Deckung!“, schreit Wolff entsetzt und weicht hastig zurück.
Die Männer flüchten. Mehr und mehr Lichtblitze zucken durch die Krypta, verpuffen zischend an den steinernen Wänden. Es ist wie ein buntes Blitzlichtgewitter. Dumpf tönender Gesang kommt auf, hallt durch das Gewölbe. Das Innere des Sarkophags erfüllt nun gleißendes Licht, das beständig nach außen dringt. Nebel beginnt sich über den Boden auszubreiten, zieht an der Sargwanne hinauf. Die bunten Lichtblitze verschwinden mehr und mehr. Die Männer verharren und starren verschreckt zu dem Sarkophag, wo sich verstärkt Konturen in dem Licht abzeichnen: eine menschliche Gestalt, eine Frau mit langem, blondem Haar. Ungläubig fixiert Wolff die Erscheinung. Es ist die Tote aus dem Sarg. Sie ist auferstanden! Angst verspürt er jedoch keine, denn die Frau strahlt Wärme und Güte aus, zieht ihn fast magisch an mit ihrer jugendlichen Schönheit, die sie nun zeigt.
„Sei gegrüßt, edler Fremder“, dringt es aus ihrem Mund. „Du hast mich aus der Dunkelheit befreit. Dafür will ich dir Dankbarkeit erweisen.“
Der Hort der Nibelungen, schießt es Wolff durch den Kopf.
„Kommt. Kommt näher und empfangt euren Lohn“, fährt die Frau fort.
Gebieterisch breitet sie die Arme aus. Das weite, violette Gewand verleiht ihr eine majestätische Würde. Die Männer zögern nicht. Selbst der Professor kann der Anziehung nicht widerstehen. Alle näheren sie sich dem Sarkophag, sind verzaubert von der Anmut dieser Frau. Ein zufriedenes Lächeln zeichnet ihr Gesicht. Ihre blauen Augen leuchten wie Sterne.
Wolff kommt von ihrem Anblick nicht mehr los. „Ich grüße Euch, Kriemhild. Königin. Wir sind Eure untertänigen Diener.“
„Kriemhild? Du nennst mich Kriemhild?“
„So wart Ihr doch genannt in Eurer Zeit“, erwidert Wolff überrascht.
Abrupt verschränkt die Frau ihre Arme über dem Kopf, verbirgt somit ihren ganzen Körper in dem Gewand. Dann kommt Wind auf, seicht, aber unaufhörlich. Kälte packt die Männer, lässt sie frösteln. Der Wind nimmt zu, wird zum Sturm, heult durch die Krypta. Die Männer widerstehen der Kraft kaum. Ihre Mäntel flattern. Schlagartig färbt sich das gleißende Licht blau. Geisterhafte Wesen tauchen darin auf, mit langen Klauen und teuflischen Fratzen. Sie jagen auf die Männer zu. Wolff schlägt von Furcht erfüllt um sich, versucht, die Dämonen mit den Armen abzuwehren. Zischende Laute und dumpfes Dröhnen folgen als Antwort. Schreie erfüllen die Krypta, bis sie schließlich auf den gefrorenen Lippen der Männer verstummen. In dem stürmischen Wind werden ihre Glieder zu Eis – bis auf Wolff. Voll Panik starrt er zu der Frau.
„Ihr törichten Narren. Das ist euer Tod. Ich bin Brünhild, Königin von Island.“
Ihr irres Gelächter hallt grausig in Wolffs Ohren. Fassungslos sieht er die erstarrten Körper der Männer um ihn herum, die zu Boden fallen und in tausend Stücke zerspringen.
Kapitel 1
Erfahrungen
Dienstag, 18. April
Gegenwart. Mainz, Innenstadt.
Konzentriert saß die junge Frau vor dem Computer und tippte auf der Tastatur. Abwechselnd blickte sie auf das Manuskript, das neben ihr lag, und auf den Monitor. Seit zwei Stunden gab sie die Änderungen, die sie in dem Romanmanuskript eingetragen hatte, in die Textdatei
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