Der Fluch des Florentiners
Abreise war. Nein, Sanjay um Hilfe zu bitten, war beim derzeitigen Stand der Dinge nicht möglich. Und der guten, treuen Seele Chrissie konnte sie zwar alles erzählen, aber helfen konnte ihre Freundin Christiane ihr ebenfalls nicht. Vor Marie-Claire lagen Entscheidungen, die ebenso dramatisch e w ie fatale Folgen haben konnten. Ihren Job bei Christie ’ s würde sie sowieso verlieren, und nur sie alleine war dafür verantwortlich. Hätte sie sich nicht mit diesen drei Männern eingelassen, wäre das alles nicht passiert. Jetzt war es zu spät. Jetzt galt es einzig und alleine, Cathrine zu retten. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie musste an ihre Zwillingsschwester denken. Cathrine hatte sich an Abdel rangemacht, hatte mit ihm geschlafen! Mit demselben Mann, mit dem sie in der Nacht zuvor zusammengewesen war. Das war die eine, die grausamste Erkenntnis. Die andere, die gefährliche, war, dass Cathrine Abdel offensichtlich Details ihrer streng geheimen Recherche über den Florentiner erzählt hatte. Und das, obwohl sie Cathrine ausdrücklich gebeten hatte, mit niemandem darüber zu reden. Damit hatte Cathrine sie beide in große Gefahr gebracht. Konnte sie Cathrine das jemals verzeihen? Oder waren sie beide nur Opfer eines brutalen, skrupellosen Kriminellen? Hatte Abdel Rahman von Anfang an nur mit ihr gespielt und sie ausgenutzt? War er vielleicht sogar einer der Täter, die die beiden Sancys geraubt hatten? In den Zeitungsberichten hatte sie gelesen, dass einer der Täter wahrscheinlich durch eine Polizeikugel verletzt worden war. Als sie mit Abdel Rahman im Bett gewesen war, hatte sie eine frische Narbe an seinem Unterleib gesehen. Er hatte behauptet, sich bei einem Unfall schwer verletzt zu haben. Damals hatte sie ihm geglaubt, doch jetzt bezweifelte sie selbst die Richtigkeit seines Namens. An allem zweifelte sie.
War Cathrine an dieser verfahrenen Situation schuld? Hätte Cathrine nicht mit Abdel geschlafen und wäre sie nicht mit ihm nach Marrakesch geflogen, wäre alles sicher ganz anders verlaufen. Oder vielleicht doch nicht? Die Beantwortung dieser Frage war unwichtig geworden. Si e m usste zunächst tun, was Abdel Rahman von ihr verlangte. Sie hatte das Buchmanuskript und die Unterlagen aus dem Archiv bei sich. Vor wenigen Stunden hatte sie sich die beiden Aktenordner in der Christie ’ s-Zentrale besorgt. Rasch hatte sie die Seiten überflogen. Der Inhalt hatte sie schockiert. Als sie während eines Gesprächs mit Luc Duchard, der im Board of Directors des Konzerns saß, feststellte, dass er über ihren Auftrag in keiner Weise informiert war, wusste Marie -C laire weder ein noch aus. Wieso wussten die Direktoren von Christie ’ s nichts von ihrem Auftrag? Offensichtlich hatte Francois Roundell sie angelogen. Aber warum? Seither hatte sie Angst. Entsetzliche Angst! Was von nun an geschehen würde, war nicht absehbar. Das Einzige, was derzeit feststand, war, dass sie im Flugzeug nach Marokko saß. In etwa vier Stunden würde sie in Marrakesch landen.
*
Für Hassan Jorio, Kommandant der Berufsfeuerwehr von Marrakesch, war es der aufregendste Einsatz seines Lebens. Der dickbäuchige Hüne mit dem kahlen Schädel saß in seinem Büro und zwirbelte nervös an seinem Oberlippenbart. Der Muezzin rief soeben von der nahen Moschee zum Nachmittagsgebet. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen Dutzende Straßenkarten, Baupläne, Fahrzeug- und Personallisten. Seit zwei Tagen tat er nichts anderes, als sich auf diese Sache im Hotel Palmeraie und dem nahe gelegenen noblen Reitclub vorzubereiten. Was ihn unruhig machte, waren aber nicht die einsatztechnischen Aspekte dieser Übung, das war pure Routine. In allen größeren Hotels, Schulen und öffentlichen Gebäuden wurden in regelm ä ßigen Abständen solche Übunge n d urchgeführt. Sie liefen immer nach dem gleichen Muster ab: simulierte Brandherde im Objekt – Alarm – Ausrücken – Ankunft – Lagebesprechung mit den Abteilungsleitern der jeweiligen Einsatzgruppen – Bran d herde lokalisieren – Schläuche ausfahren – Anwohner evakuieren – Wasser Marsch! Heute jedoch würde das ganz anders ablaufen. Zum einen eilten permanent hochrangige Polizeibeamte mit goldenen Schulterabzeichen und vielen Orden auf ihren Jacketts in sein Büro, hinterfragten ständig, was er tat und plante. Zum anderen gab es da die vielen Zivilbeamten, deren Namen er sich nicht merken konnte und von denen er nicht einmal genau wusste, wer sie überhaupt waren. Fest stand
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