Der Fluch des Florentiners
hinaufgewankt. Drei Stufen vor dem Stübchen mit den gotischen Erkerfenstern musste sie nochmals lange ausruhen.
Und dann sah sie ihn! Zum Greifen nahe, keine fünfzig Meter Luftlinie entfernt. So unglaublich nahe war er, dass sie nicht glauben konnte, dass man ihn in den Straßen unten nicht sehen konnten: ein Kirchturm! Ein kleiner, kau m m ehr als zehn Meter hoher Kirchturm mit einem winzigen Kreuz oben drauf und mit einigen kleinen, romanisch wirkenden Fenstern. Ein schlanker Turm mit grünlich patiniertem Metalldach. Die Fassade war so hässlich-stillos mit schnödem Zement verputzt, dass Marie-Claire annahm, dass diese Kirche, die da unten liegen musste, im Zweiten Weltkrieg höchstwahrscheinlich zerstört oder arg in Mitleidenschaft gezogen und bis heute nicht originalgetreu wieder aufgebaut worden war. Das war es! Sie war sich ganz sicher. Da unten hinten den Fassaden eines Tabak- und eines Modegeschäftes verbarg sich eine Kirche. Doch war es eine barocke Kirche?
Sie rannte so schnell sie konnte wieder nach unten. Zweimal stolperte sie in dem engen Treppenhaus, und mehrmals musste sie verschnaufen. Mit wehenden Haaren war sie schließlich an dem verdutzten Kassierer vorbeigerannt, raus auf den Stephansplatz, in die kleine Churhausgasse, dann wieder links in die Singerstraße. Dann starrte sie ungläubig auf die graue, unscheinbare Fassade eines mächtigen, dreigeschossigen Gebäudes mit schnörkellosen, klassizistischen Fensterbögen, das auf den ersten Blick eher wie ein altes Krankenhaus aussah. Sie sah ein mit der rot-weißen Staatsfahne dekoriertes Schil d » Mozarthaus «, war völlig verwirrt, weil sie nicht wusste, warum und dass es in Wien ein Mozarthaus gab, suchte mit einem Blick nach oben den kleinen Kirchturm, den sie vom Stephansdom aus gesehen hatte. Doch von hier unten war nichts zu sehen. Im Eckteil des Hauses war eine Buchhandlung, in der ersten Etage ein Frisör untergebracht. Erst spät sah sie die Straße hinunter links die drei Kirchenfenster. Sie jubelte innerlich. Es waren barocke Kirchenfenster! Drei barocke Fenster mit jeweils fünf schwarzen, sehr ungewöhnli chen Kreuzen auf weißem Untergrund. Sie hatte diese Art Kreuze schon einmal gesehen, wusste aber nicht wo und wusste auch nicht, was sie bedeuteten – bis sie das unscheinbare, kaum lesbare bronzene Schild an der Fassade las: » Am 1. September des Jahres 1938 lösten die Nationalsozialisten die Ball ei Österreich des Deutschen Ordens auf. Am 26. März 1947 wurde die Auflösung von der Republik Österreich als widerrechtlich erklärt. «
Marie-Claire de Vries lächelte unendlich glücklich und zufrieden vor sich hin: Du bist selten dämlich! Wieso bist du nicht gleich darauf gekommen? Dies hier ist die St.-Elisabeth-Kirche, die Kirche eines der berühmtesten Orden des Abendlandes, jenes der » Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens « in Jerusalem, kurz Deutscher Orden genannt. Im gesamten Mittelmeerraum, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und im baltischen Raum errichtete dieser aus einer Hospitalbruderschaft entstandene Ritterorden seit dem 12. Jahrhundert ein päpstlich anerkanntes, unglaublich mächtiges Gefüge aus weltlichen und kirchlichen » dienenden Brüdern «, dessen Zentrum eine der größten Festungsanlagen der Welt wurde: Marienburg – dessen Fahne jenes Kreuz trug, das sie nun in den barocken Kirchenfenstern über sich sah. Plötzlich waren ihr die Zusammenhänge klar: Der Deutsche Orden, einst als Deutscher Ritterorden bezeichnet, war berühmt-berüchtigt geworden als Unterdrückungsinstrument der katholischen Kirche. Und als Instrument des abendländischen Kampfes gegen die Heiden – die Moslems. In diesem Orden einten sich einst mächtige Kräfte, die zu den Kreuzzügen aufbrachen. Zur Befreiung Jerusalems und zur Verteidigung des christlichen Glaubens. Und das, so wusste sie mittlerweile, galt auch als eines der wichtigste n Z iele des Vlies-Ordens. Der Orden der Ritter vom Goldenen Vlies war kein Verdienstorden. Er war ein politischer Orden – und war ebenfalls eng verknüpft mit der katholischen Kirche.
Marie-Claire ging zurück zu dem unscheinbaren Eingang, in dem ein junger Mann Eintrittskarten für Konzerte im Mozarthaus verkaufte. Sie sah das alte, hölzerne Portal rechts im Durchgang, sah die zwei in die Holztür eingearbeiteten Kreuze des Deutschen Ordens und wusste, dass dies der Ort war, den sie suchte. Dann sah sie das Schild an der Tür: » Diese Kirche bleibt heute
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