Der Fluch des Khan
diesem Punkt Ihrer Daqing-Leitung herstellen, dann kann das Öl fließen.«
»Eine vierzig Kilometer lange Pipeline? Die kann man in neunzig Tagen nicht fertigstellen.«
Borjin stand auf und ging um den Tisch herum. »Ach, kommen Sie. Die Amerikaner haben beim Bau ihrer transkontinentalen Eisenbahn in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts sechzehn Kilometer Gleise pro Tag verlegt. Ich war so frei und habe die Strecke bereits vermessen lassen und die nötigen Rohre bei einem Lieferanten in Auftrag gegeben. Darüber hinaus kann ich vorläufig auch Baumaschinen zur Verfügung stellen. Für ein Land, das den Drei-Schluchten-Damm errichtet hat, sollte so etwas doch ein Kinderspiel sein.«
»Sie haben unsere Bedürfnisse wohl bedacht«, sagte Shinzhe mit mühsam verhohlenem Missmut.
»Das sollte ein guter Geschäftspartner auch tun.« Borjin lächelte. »Die Bedingungen, die ich im Gegenzug stelle, sind simpel. Sie werden pro Barrel Rohöl hundertsechsundvierzigtausend
Togrog
bezahlen, das entspricht einhundertfünfundzwanzig US-Dollar. Sie werden die südliche Mongolei, beziehungsweise das autonome Gebiet Innere Mongolei, wie Sie es bezeichnen, zurückgeben. Und Sie werden mir eine direkte und ausschließlich von mir genutzte Pipeline zum Hafen von Qinhuangdao sowie die dort erforderlichen Verlademöglichkeiten zur Verfügung stellen, damit ich meine überschüssigen Ölvorräte exportieren kann.«
Während Shinzhe angesichts dieser Forderungen noch nach Luft rang, wandte sich der Mongole ab, blickte aus dem Fenster und betrachtete die vom Wind aufgewirbelten Staubwolken, die wie Flammenzungen über das Anwesen tanzten. Dann meinte er eine Bewegung wahrgenommen zu haben und spähte in den Innenhof hinab. Zwei Männer in schwarzen Anzügen rannten auf das Heiligtum zu. Borjin sah, wie sie zur Rückseite des Gebäudes liefen, neben dem Eingang wieder auftauchten und hineinhuschten. Er hatte das Gefühl, als schnürte ihm etwas die Kehle zu, als er sich wieder an den Minister wandte.
»Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen würden, ich muss mich um eine dringende Angelegenheit kümmern.«
Bevor der Minister etwas sagen konnte, kehrte ihm Borjin den Rücken zu und verließ forschen Schrittes den Raum.
22
D er Wind war vorübergehend abgeflaut, sodass Pitt und Giordino in ihrem Versteck ausharren mussten. Pitt blickte nach oben und bewunderte den hohen Bogengang, der zur Hauptkammer des Bauwerks führte. Das Gemäuer wirkte zwar uralt, war aber, den glatten und unbeschädigten Mörtelschichten zwischen den Steinen nach zu schließen, offensichtlich teilweise erneuert und restauriert worden. Und dann wurde ihm klar, dass das Herrenhaus wahrscheinlich um den mitten im Innenhof gelegenen kleinen Bau herum errichtet worden war.
»Ein buddhistischer Tempel?«, fragte Giordino, als er am Ende des Gangs flackernden Kerzenschein bemerkte.
»Höchstwahrscheinlich«, erwiderte Pitt, der wusste, dass der Buddhismus die vorherrschende Religion in der Mongolei war.
Doch die beiden Männer waren neugierig geworden, und da sie ohnehin warten mussten, bis der Wind wieder auffrischte, gingen sie leise den breiten Gang entlang und betraten die Kammer.
Als sie sich im Schein Dutzender Fackeln und Kerzen umsahen, stellten Pitt und Giordino erstaunt fest, dass sie sich eher in einem Mausoleum als in einem Tempel befanden. An der Rückwand war zwar ein kleiner Holzaltar aufgebaut, doch zu beiden Seiten stand jeweils ein großer Sarkophag. Sie waren aus weißem Marmor gefertigt und wirkten modern, was darauf hindeutete, dass die darin liegenden Toten innerhalb der letzten zwanzig, dreißig Jahre hier bestattet worden waren. Pitt konnte die in die Sargdeckel gehauenen kyrillischen Schriftzeichen zwar nicht lesen, vermutete aber aufgrund von Korsows Bericht über Borjins Werdegang, dass hier die Mutter und der Vater des Ölmagnaten bestattet waren.
Allerdings wagte er nicht einmal eine Vermutung darüber anzustellen, wer in der Mitte der Krypta ruhte. Auf einem Piedestal aus poliertem Marmor stand dort nämlich ein aus Granit gehauener Sarkophag, der wesentlich älter wirkte. Er war zwar nicht allzu groß, aber über und über mit Reliefs von Pferden und wilden Tieren verziert, die einst bemalt gewesen sein mussten. Die Abbildungen waren nach wie vor deutlich zu erkennen, die Farbe allerdings war größtenteils verwittert. Am Kopfende des Sarges ragten neun Stangen auf, an deren Spitzen weiße Fellbüschel hingen, genau
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