Der Fluch des Khan
wählte eine Auslandsnummer.
Anschließend wählte er eine zweite Nummer und ließ die Seismogramme aus dem Handbuch durchlaufen.
»Das dürfte ein paar Müßiggängern die Flausen austreiben«, sagte er zu sich selbst, während er sich auf sein Zimmer begab.
Rein äußerlich wirkte das Grundstück in Georgetown, auf dem die Remise stand, wie jeder andere noble Wohnsitz in diesem schicken Viertel von Washington, D.C. Die Dachtraufen des verwitterten Ziegelbaus waren frisch gestrichen, blitzblank funkelten die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Glasfenster, und der kleine Garten außen herum war tadellos gepflegt. Ganz anders sah es jedoch drinnen aus, wo es wie im Bücherlager der New York City Public Library zuging. Auf Hochglanz polierte Holzregale säumten nahezu sämtliche Wände des Hauses, alle randvoll mit historischen Werken über Schiffe und Seefahrt. Der Esstisch und die Ablageflächen in der Küche lagen ebenfalls voller Bücher, außerdem türmten sich überall Bücherstapel am Boden.
St. Julien Perlmutter, der leicht exzentrische Besitzer des Remisenhauses, wollte es genau so haben. Bücher waren die große Leidenschaft des Marinehistorikers, der zu den bedeutendsten seiner Zunft zählte und hier eine Sammlung von Nachschlagewerken zusammengetragen hatte, nach der Bibliothekare und Privatsammler in aller Herren Länder gierten. Dabei war er großzügig und ließ Gleichgesinnte, die wie er die See liebten, jederzeit bereitwillig in sein Archiv und teilte sein Wissen mit ihnen.
Das Piepen und Surren des Faxgeräts schreckte Perlmutter auf, der auf dem schweren Ledersessel eingeschlafen war, während er sich das Logbuch des Geisterschiffes
Mary Celeste
zu Gemüte geführt hatte. Er wuchtete seine fast dreieinhalb Zentner Lebendgewicht aus dem Sessel, ging in sein Arbeitszimmer und holte das Fax. Er strich sich den dichten grauen Bart, während er die kurze Nachricht auf dem ersten Blatt las.
St. Julien,
eine Flasche frisches Airag für dich, wenn du das identifizieren kannst.
Pitt
»
Airag.
Das ist die reinste Erpressung«, grummelte er grinsend.
Perlmutter war ein ebenso großer Gourmet wie Gourmand, der sowohl gehaltvolle als auch exotische Kost schätzte, wie sein mächtiger Bauch verriet. Pitt hatte genau den richtigen Nerv getroffen, als er ihn mit vergorener Stutenmilch aus der Mongolei bestach. Perlmutter musterte die folgenden Faxseiten, auf denen Vorder- und Hinteransicht eines silbernen Anhängers zu sehen waren.
»Dirk, ich bin zwar selbst kein Juwelier, aber ich kenne jemanden, der etwas damit anfangen könnte«, sagte er laut. Er griff zum Telefon, wählte eine Nummer und wartete einen Augenblick.
»Gordon? St. Julien hier. Sag mal, ich weiß, dass wir nächsten Donnerstag zum Mittagessen verabredet sind, aber ich bräuchte schon vorher deine Hilfe. Könnten wir uns stattdessen heute treffen? Schön, schön, ich kümmere mich um die Reservierung.
Wir sehen uns um zwölf.«
Perlmutter legte den Hörer auf und blickte wieder auf den fotokopierten Anhänger. Wenn er von Pitt kam, steckte vermutlich eine wilde Geschichte dahinter. Wild und gefährlich.
Im Monocle, einem vor allem bei Politikern beliebten Lokal nicht weit vom Capitol Hill, drängten sich die Mittagsgäste, als Perlmutter durch die Tür trat. Rasch entdeckte er inmitten der Senatoren, Lobbyisten und Parlamentsbediensteten, die hier werktags verkehrten, seinen Freund Gordon Eeten, der in einer Seitennische saß und einer der wenigen Besucher war, die keinen blauen Anzug trugen.
»St. Julien, schön, dich wiederzusehen, mein Freund«, begrüßte ihn Eeten, ein stattlicher Mann, der humorvoll wirkte, zugleich aber auch den Scharfblick eines Detektivs besaß.
»Wie ich sehe, muss ich ein bisschen aufholen«, sagte Perlmutter grinsend, als er das fast leere Martiniglas auf dem Tisch stehen sah.
Perlmutter ließ sich vom Barkeeper einen Sapphire Bombay Gibson bringen, dann bestellten die beiden Männer ihr Mittagessen. Während sie warteten, reichte Perlmutter Pitts Fax an Eeten weiter.
»Vor dem Essen müssen wir leider etwas Geschäftliches regeln«, sagte Perlmutter. »Ein Freund von mir ist in der Mongolei auf dieses Schmuckstück gestoßen und möchte wissen, was es für eine Bedeutung hat. Kannst du mir da weiterhelfen?«
Mit ausdrucksloser Miene musterte Eeten die Fotokopien. Als Kunsthistoriker und Gutachter beim berühmten Auktionshaus Sotheby’s hatte er buchstäblich Tausende von Kunstgegenständen
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