Der Fluch des Nebelgeistes 02 - Herr des Lichts
Plattform.
Die Bruderschaft hatte sich eine Stelle ausgesucht, die von allen Seiten gut einzusehen war und über eine passende Akustik verfügte. Lysaer blieb zwischen den nun nackten, gesplitterten Pfeilern stehen, welche die Markise getragen hatten, und konnte von dort aus jeden Winkel des Platzes erkennen.
Vor ihm breitete sich das tragische Chaos dieser Stadt aus. Vom fahlen Licht der Laternen wurden kurze Episoden aus dem Dunkel gerissen: schreiende Handwerker, die drohend ihre Werkzeuge schwangen und Pfähle aus ihren Verankerungen rissen; das Gelächter einer zerlumpten Horde Plünderer, die sich tanzend im Kreise drehten; eine Frau, die ein zerrissenes Kleid stahl. Und ein älterer Mann, aufs äußerste bedrängt und seines Spazierstocks bereits verlustig, dessen letzte Waffe gegen seine Angreifer der Rand eines zerbrochenen Blumentopfes war.
Böse Ahnungen ob ihrer Notlage vertrieben die Orientierungslosigkeit, die seit Lysaers Erwachen nicht gewichen war. Desh-Thieres Plan, seine Loyalität wiederzuerlangen, hatte voll und ganz funktioniert.
Seine Besessenheit schob er nun auf Magie, die ihn benebeln und verwirren sollte; daß die Bruderschaft alles tat, Arithons Flucht zu unterstützen, war vorhersehbar gewesen, da sie sich immerhin auch beständig geweigert hatte, seine früheren Verbrechen der Freibeuterei wahrzunehmen. Diesem Trugschluß durfte nicht länger mehr gestattet sein, der Gnade im Wege zu stehen. Ebensowenig konnten die weitverbreiteten Aufstände durch rigoroses Vorgehen aufgehalten werden. Lysaer erkannte, daß es dumm wäre, anzunehmen, er müßte einfach nur die ganze Macht seiner Gabe einsetzen und das Leichentuch aus Schatten am Himmel zu zerfetzen.
Eine Bevölkerung, in der eine Massenpanik ausgebrochen war, mochte einen so gewaltigen Gegenschlag wohl für einen Angriff feindlich gesonnener Magie halten; keine Tat, aus welch guten Absichten auch immer, durfte die Panik nun noch weiter vorantreiben. Ein vorsichtiges Vorgehen aber mochte die Vernunft in ihnen wieder erwecken; Licht mußte sich sanft wie Balsam über die Stadt ergießen, deren zerrissene Loyalität blutenden Wunden vergleichbar war.
Lysaer hob seine Hände.
Während der Monate des Kampfes gegen Desh-Thiere, war seine Gabe geschmeidiger, formbarer geworden; außerdem verliehen die Stunden, während derer sie zusammengearbeitet hatten, Lysaer das Zutrauen, daß er jedes Geflecht aus Arithons Schatten auszuloten vermochte.
Die Schreie, die Rufe, das Krachen des Holzes beim Aufprall des Stahls, als einige Angeber sich Gnudsogs Soldaten entgegenstellten, verstummten, als Lysaer ein unterschwelliges Leuchten hinaufschickte. Still, zartfühlend prüfte er die Bindungen der Dunkelheit, die der Herr der Schatten über die Stadt gebracht hatte.
Sein forschendes Glimmen wurde sogleich verschluckt. Eine Dunkelheit gleich einem unergründlichen Ozean, schien seine Anstrengungen zu verhöhnen. Lysaer schluckte seinen neu erwachten Ärger hinunter. Keine Schattendecke konnte von unendlichen Ausmaßen sein. Nicht einmal die Macht der Bruderschaft war unbegrenzt. Lysaer stellte seine Vernunft und Objektivität der Glut seines Hasses entgegen. Bei seinem nächsten Versuch erkannte er eine Spur von Magie, die geschickt mit den Schatten verwoben war. Nicht nur, daß die Illusion ihn genarrt hatte, anzunehmen, die Nacht wäre grenzenlos; Lysaer hatte sich auch in der Annahme getäuscht, daß Arithon sich noch innerhalb der Stadtmauern befinden mußte.
Haltezauber verankerten die Schatten. Seine magischen Fertigkeiten erlaubten es dem Herrn der Schatten, Finsternis zu spinnen, die auch ohne seine Anwesenheit Bestand hatte.
Sehr wahrscheinlich war das Tageslicht blockiert worden, um eine eilige Flucht zu verbergen. Daß Arithons Attacke sich nicht direkt in böser Absicht gegen die Bürger Etarras gewandt hatte, war für Lysaer kein Grund, ihm zu vergeben. Das Durcheinander hatte Aufstände hervorgebracht. Der Mann, dessen königliche Pflicht es gewesen war, den Frieden zu erhalten, hatte skrupellos zu den verheerendsten Mitteln gegriffen, um sich seiner Verantwortung zu entziehen.
Dem Recht würde gedient werden, gelobte Lysaer. Für jedes verlorene Leben, jede Verletzung, die durch diese Nachlässigkeit entstanden war, sollte Arithon s’Ffalenn bezahlen.
Die Macht der Dunkelheit mußte geradewegs durchbrochen werden. Lysaer streckte die Arme aus. Glut fuhr zum Himmel auf. Golden, wie das Licht der Nachmittagssonne auf einer
Weitere Kostenlose Bücher