Der Fluch des Nebelgeistes 06 - Das Schiff der Hoffnung
wie die Erfahrung selbst …
Dakar erlebte nun das grausame Massaker am Tal Quorin, doch nicht so, wie es beschrieben wurde oder wie die Geschichte, deren majestätische Tragik Halliron in seinen Balladen eingefangen hatte. Nein, er hörte die Schreie, wie sie massenweise durch die Schlucht hallten, als Pesquils Kopfjäger sich an Müttern und ihren kleinen Mädchen vergriffen; er sah die eingebrannten Erinnerungen an Frauen und Kinder, deren Leben Lysaer in einem Lichtblitz kalter Strategie mit einem Schlag grausam beendet hatte, um Arithons Verbündete zu einem unüberlegten Vergeltungsschlag zu verleiten, um sie in die Falle zu locken und niederzumetzeln. Er schrie vor Entsetzen angesichts der zehrenden Mächte, die sich durch Arithons Hände gebrannt hatten, als der Herr der Schatten das Unfaßbare getan hatte, um Unmögliches zu vollbringen: als er sein Wissen über die Große Beschwörung zum Töten mißbraucht hatte, um Deshirs Clans vor der totalen Vernichtung zu retten.
Doch die Qualen gingen über das hinaus, als Arithon, erfüllt von einem schrecklichen Schmerz, den keine Buße lindern wollte, in der Tiefe der Nacht über das Schlachtfeld wandelte. Wieder und wieder beugte er sich über die leblosen Leiber der Opfer, Städter und Clankrieger, Frauen und Kinder, um die Macht herbeizurufen, ein paravianisches Ritual durchzuführen, das diese Menschen von der Gewaltsamkeit ihres Todes befreien sollte. Weit über die Grenzen seiner Kraft hinaus, nurmehr von der strahlenden Willensenergie des Geistes allein vorangetrieben, hatte er jedes der verlorenen, traurigen Opfer von diesem Schatten erlöst und ihm den Weg zu Aths göttlichem Frieden eröffnet.
Auf einer Woge unerträglicher Qual zurückgeschleudert, reagierte Dakar reflexartig, als er den Namen hinausbrüllte, um sein Selbst zu stabilisieren. Niedergeschmettert aus der schwindelnden Wirrnis gelöst, verwob er die zerrissenen Gedanken zu einem Schutzschirm, um die Fasern seines Bewußtseins zu isolieren. Seine Abwehr entfaltete sich wie ein funkelndes Gewebe aus reinem Licht, ehe sie sich der schimmernden Antwort einer entgegengesetzten Kraft ausgesetzt sah.
Wie aus dem Nichts erhielt er einen heftigen Schlag, und Dakar fühlte, wie seine zarten Schutzmechanismen zerschmettert und wie zerfetzte Metallsplitter unter der Hitze eines funkelnden Schauers gleißender, verschwenderischer Energien dahinschmolzen. In dem Augenblick, in dem sich tiefe Dunkelheit über seinen Geist senkte, erkannte er, daß sein Vordringen Arithons reflexartige Abwehrkräfte zum Leben erweckt hatte.
Dann wurde er in einem übelkeitserregenden, schwindelnden Wirbel in die luftleere Finsternis geschleudert, die sich in brennendem Schmerz über sein ganzes Sein legte.
Würgend kam Dakar am Boden einer muffigen Kajüte an Bord der Khetienn wieder zu Bewußtsein. Er weinte, war völlig verstört, kaum mehr er selbst. Sein Rücken krümmte sich in einem furchterregenden Winkel um das Bein des Kartentisches. Blutergüsse vereinten sich mit verdrehten Gelenken zu einem dämonischen Chor der Schmerzen. Splitter aus der zerschmetterten Truhe hatten sich in seinen Oberschenkel gebohrt. Heruntergefallene Federn lagen unter seiner rechten Wange und kitzelten ihn bei jedem Atemzug in der Nase. Heftig erzitterten seine Zellen unter der prickelnden Vorahnung eines gewaltigen Niesanfalls.
Er wischte die Federn fort und setzte sich auf, gänzlich von seinen bösartigen Flüchen in Anspruch genommen.
Sein Blick bohrte sich in die Finsternis und fand den Herrn der Schatten, der sich nun heftig zuckend im höllischen Griff seiner Alpträume auf seinem Lager hin und her warf, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
»Sei verdammt, Prinz. Natürlich konntest du nicht wehrlos sein, nicht einmal in tiefer Bewußtlosigkeit.« Zu spät erinnerte er sich in seinem Groll eines Kommentars des Bruderschaftszauberers Asandir, der ihm genau diese Tatsache einmal geschildert hatte.
Jeder Narr hätte daran denken müssen. Arithon verfügte über eine hervorragende und geradlinige Disziplin. Solange dieser eigensinnige Geist lebte, war er zu sehr ein Magier, als daß er sich eines fremden Eingriffs nicht erwehren würde. Der frühen Ausbildung durch seinen Großvater verdankte er gute Verteidigungsmechanismen gegen jede Art von Besessenheit, was vermutlich auch der Grund dafür war, daß es ihm gelungen war, sich der weitreichenden Auswirkungen des Fluches Desh-Thieres zu erwehren.
Lysaer
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