Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
sie in eine erlösende Dunkelheit.
Orinoco Delta,
Jänner 1619
Als Conrad aus seiner Hängematte kletterte, waren die Bewohner des Dorfes bereits seit Stunden auf. In der Dorfmitte brannte ein kleines Feuer, über dem ein großer Topf hing. Zwei Frauen saßen davor und unterhielten sich. Als Conrad an ihnen vorbeiging, kicherten sie.
Bei Tageslicht sah das Dorf noch viel wilder und unkultivierter aus, als Conrad gestern gedacht hatte. Einige der strohgedeckten Hütten hatten nur zwei Außenwände, andere bestanden bloß aus vier Stämmen, über dem sich ein Dach befand, das vor Regen schützte. Conrad vermutete, dass es hier nie so kalt wurde, dass die Menschen winterfeste Häuser benötigten. Von den Balken der Dächer hingen Früchte, Pflanzen und Fische zum Trocknen. Vor einer der Hütten zupfte eine ältere Frau an einem der Bündel, zerrieb eine Blüte zwischen den Fingern und roch daran. Offensichtlich war sie mit dem Geruch nicht zufrieden. Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann ging sie zum nächsten Bündel und verfuhr damit genauso.
Männer kamen mit Fischen vom Angeln zurück, Kinder spielten mit Muscheln und Steinen am Flussufer. Auch Assante war längst wach und machte sich nützlich. Tica wies ihn im Flechten eines Korbes an. Dazu verwendete sie die Blätter einer Palme.
»Guten Morgen, du Langschläfer«, rief Assante und winkte den Freund zu sich, doch Conrad beobachtete immer noch die alte Frau, die sorgfältig ihre Kräuter prüfte.
»Das ist Waio, die Schamanin des Dorfes«, erklärte Tica. Im Licht des Tages sah sie noch hübscher aus als gestern beim Lagerfeuer. Ihre Haut erinnerte an glänzende Bronze, das schwarze Haar hatte sie heute mit bunten Bändern im Nacken zusammengebunden, und ihre Augen hatten die Farbe von hellem Bernstein. In ihnen lag etwas Schwermütiges und Trauriges.
»Ist die alte Frau eine Art Ärztin oder eine Priesterin?«, wollte Conrad wissen.
»Sie ist beides«, antwortete Tica. »Das Wissen der Schamanen ist exklusiv. Frauen können erst Schamaninnen werden, wenn sie nicht mehr fruchtbar sind. Auch Männer können erst im Alter zu Schamanen ausgebildet werden. Beide brauchen einen Lehrmeister, der sie für würdig erachtet, das Wissen zu übernehmen.«
Conrad dachte, dass Jana an den Waraos Gefallen finden würde. Die Tatsache, dass sowohl Männer als auch Frauen Schamanen werden konnten, gefiel auch ihm.
Drei Frauen holten ihn aus seinen Gedanken zurück. Sie trugen riesige Körbe und liefen schwatzend an ihm vorbei. Kinder folgten ihnen aufgeregt.
»Heute ist ein besonderer Tag«, erklärte Tica. »Eines der heiratsfähigen Mädchen wird mit einem Jungen aus dem Nachbardorf vermählt.«
»Das heißt, das Mädchen zieht weg«, ergänzte Assante.
Doch Tica schüttelte den Kopf: »Im Gegenteil, der junge Mann zieht ins Haus der Schwiegereltern. Er muss ein Jahr lang für sie arbeiten, ein Haus bauen, einen Einbaum anfertigen und einen Gemüsegarten anlegen. Findet er im nächsten Jahr nicht das Wohlwollen seiner Schwiegereltern, so können sie ihrer Tochter raten, den Mann wieder zu verlassen.«
Fassungslos schüttelte Assante den Kopf, auch Conrad staunte ungläubig.
»Ihr könnt euren Mund wieder schließen«, sagte Tica amüsiert.
Assante reagierte als Erster und grinste verlegen.
»Ihr treibt Scherze mit uns«, sagte Conrad ernst.
Aber Tica verneinte: »Die Waraos freuen sich über die Geburt eines Mädchens mehr als über die eines Jungen, da die Tochter ihnen mit einem Schwiegersohn eine zusätzliche Arbeitskraft bringt.«
Nun war sich Conrad sicher, dass Jana dieses Volk lieben würde.
»Und es gibt keinen Streit, wenn ein Mann wieder zurückgeschickt wird?«, wollte er wissen.
»Die Waraos sind das friedfertigste Volk, das ich kenne. Sie führen keine Kriege, und jeder Streit wird von Schamanen und Schamaninnen geschlichtet. Die versuchen eine gemeinsame Lösung zu finden. Es wird so lange verhandelt, bis alle zufrieden sind.«
»Lebt Euer Volk auch so friedlich?«, fragte Assante.
Traurig schüttelte Tica den Kopf: »Ich wünschte, es wäre so. Aber mein Volk hat so viele Kriege hinter sich, wie ein Trauernder Tränen vergießen kann.«
Assante schwieg betroffen. Auch sein Volk hatte Kriege geführt, so lange er zurückdenken konnte.
Tica fuhr fort: »Ich stamme aus dem Volk der Muiscas. Unsere Männer sind die talentiertesten Goldschmiede unter der Sonne. Ihre Kunstwerke sind sehr begehrt. Über Generationen hinweg
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