Der Fluch vom Valle della Luna
immer, weil sie die Jüngste war und sowieso von Geschichte, Kunst und Literatur keine Ahnung hatte. Das war natürlich total ungerecht. Alceo hat ihr trotzdem befohlen, sich auszuziehen, pro Fehler ein Kleidungsstück. Wie konnte ich das vergessen? Mir war das schrecklich unangenehm, aber ich hab mich nicht getraut, was zu sagen. Am Ende stand sie zitternd in Unterhosen da, die Ärmste. Sie hat wieder verloren, und Alceo hat ihr die Unterhosen ausgezogen, und ich hatte den Eindruck, dass gleich etwas sehr Hässliches passiert. Sie haben sie angesehen, Anselmo und er ... Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll ... Marilena war eine Fratze des Hasses. Sie hat sie angestarrt, als wollte sie sie vernichten. In dem Moment ist die Mutter hereingekommen, und Magraja hat ihre Sachen geschnappt und sich aus dem Staub gemacht. Wie seltsam, das alles hatte ich völlig vergessen.«
Nelly dachte angestrengt nach.
»Und dein Onkel Giacomo, wie hat er sich ihr gegenüber verhalten?«
Wieder kramte Sandra in ihrem Gedächtnis.
»Das ist alles so lange her, weißt du ... Wie hat Giacomo die jüngste Tochter behandelt? Ich erinnere mich nicht mehr. Aber er hat weder sie noch Marilena je angeschrien, da bin ich mir sicher. Nur die Jungs, die hat er zur Sau gemacht. Er war ziemlich liebevoll mit ihr, er streichelte ihr Haar und sagte, wie schön es sei. Einmal bin ich in sein Arbeitszimmer gekommen, da hatte er sie auf dem Schoß und küsste sie ...«
Sandra brach jäh ab, als sie Nellys Blick sah.
»Ach du Scheiße. Das ist ein paar Jahre später gewesen, sie war vielleicht vierzehn oder fünfzehn, und er hatte sie auf dem Schoß wie ein kleines Mädchen und streichelte sie ... Wenn er da nicht mal ... Wieso ist mir das nie in den Sinn gekommen? Nelly, glaubst du, er hat sie ... ?«
Sandra rutschte entgeistert auf ihrem Stuhl hin und her. Sie sah wieder Giacomos zornigen Blick, hörte die bissige Bemerkung: »Hat man dir nicht beigebracht anzuklopfen?«
Nelly versuchte, die Sache zu relativieren.
»Es ist möglich oder auch nicht. Es gibt nur eine, die es bestätigen oder bestreiten könnte, aber ich glaube nicht, dass sie es tun wird. Ein solch traumatisches Thema anzusprechen, könnte für Magraja ungeahnte Konsequenzen haben. Aber vielleicht war alles völlig unschuldig, sie hat sich einfach auf die Knie ihres Vaters gesetzt ...«
Sandra schüttelte den Kopf, geschockt von dieser Erinnerung, die plötzlich alles in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ.
»Nein, nein. Ich könnte wetten. Er hat sie angefasst, ich könnte wetten. Dieses Schwein!«
Das Wort brachte Nelly auf einen Gedanken. »Schweine. Das werdet ihr büßen.« War das nicht der Wortlaut der Drohbriefe gewesen? Und wenn sie sich statt auf einen weit zurückliegenden Verrat auf häusliche Gewalt an der Tochter bezögen? Doch die Anschuldigung war im Plural, und zur Zeit der Drohbriefe war Giacomo bereits tot. Einen hatte er allerdings bekommen ... Nellys Gedanken nahmen plötzlich einen ganz neuen Kurs.
»Eine Entführung ohne Lösegeldforderung – seltsam. Seit Tagen will mir einfach nicht in den Kopf, was deiner Cousine Marilena zugestoßen sein könnte, dabei hätte ich vielleicht schon drauf kommen können, dass ... Na klar! Entschuldige, wenn ich unhöflich bin, aber ich hab zu tun. Wir hören voneinander. Und lass dir bloß nicht einfallen, mit Magraja über deinen verspäteten Verdacht zu sprechen.«
In null Komma nichts schob Nelly die verdatterte Sandra aus ihrem Büro, die nur noch murmeln konnte: »Na, so was aber auch ... Ciao, ciao, ich gehe ja schon, schubs mich nicht!«
»Valeria, komm bitte sofort zu mir!«
Valeria hastete zur ungeduldig wartenden Nelly ins Büro.
»Mach die Tür zu und setz dich, schreib mit, höchste Dringlichkeit.«
Sie deutete auf einen Stuhl und nahm ebenfalls Platz. Valeria, vorausschauend wie immer, hatte bereits einen Block dabei.
»Setz dich mit den Carabinieri von Luras in Verbindung, und zwar direkt mit dem Maresciallo Salaria. Sag ihm, er soll sich bitte äußerst diskret darüber informieren, was Boboi Sogos in den letzten zwei Wochen getrieben hat, ob er das Dorf verlassen hat. Er muss ihn überwachen, aber wie gesagt, äußerst diskret, verstanden? Dann bittest du ihn, sich mit seinen Kollegen in Olbia in Verbindung zu setzen und sich über die Aktivitäten eines gewissen Emanuele Sogos schlauzumachen. Ob er Sardinien verlassen hat, wer seine Freunde sind, wen er in letzter Zeit getroffen hat
Weitere Kostenlose Bücher