Der Fluch vom Valle della Luna
stellte die beiden Tassen lächelnd auf den Tisch und zog sich diskret wieder zurück.
Nelly nahm ihre Freundin in Augenschein. Sandra hatte sich die Haare heller getönt und Strähnchen machen lassen, sie war sorgfältig geschminkt und hatte mindestens fünf Kilo abgenommen. Der positive Effekt des Kummers über die zerbrochene Beziehung mit Giorgio Del Vecchio. Sie hatte sich die leichte, großkarierte blaue Wolljacke ausgezogen, unter der sie eine altrosa Chiffonbluse trug. Der Rock war wie immer sehr kurz, und die Pfennigabsätze brachten ihre Beine in den perlgrauen Seidenstrümpfen zur Geltung. Nelly pfiff bewundernd.
»Seit du dir diese Filzlaus von Giorgio vom Hals geschafft hast, bist du regelrecht aufgeblüht. Du siehst umwerfend aus. Gibt’s einen Neuen?«
»Bloß nicht! Bis ich mich wieder auf irgendetwas einlasse, muss noch ordentlich Wasser den Fluss runterfließen. Ich genieße meine Freiheit und verwöhne mich ein bisschen. Ich habe so viel Zeit und guten Willen für diesen Typen verplempert, und das ohne Gegenleistung«, schloss sie bitter.
»Sandra, wie waren deine Verwandten als junge Leute? Ich meine, als du sie kennengelernt hast. Wie standen sie zueinander?«
Sandra dachte angestrengt nach.
»Also, da meine Großmutter nicht wollte, dass wir mit denen was zu tun haben, habe ich sie als Kind nicht gekannt. Als wir sie das erste Mal besucht haben, muss ich so etwa vierzehn gewesen sein. Ich war aufgeregt, weil ich väterlicherseits keine Verwandten hatte, und außerdem hatten diese sardischen Vettern einen Haufen Kohle, während wir ... Na, das weißt du ja. Als ich das erste Mal in ihre Wohnung kam, traf mich fast der Schlag. Die war damals nicht so, wie du sie gesehen hast, sondern makellos, einfach umwerfend. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie kam mir vor wie ein Schloss. Lorenza war eine schöne Frau, ein bisschen größer als Giacomo, freundlich, auch wenn sie oft traurig und bedrückt wirkte. Anselmo stand kurz vor seinem Anwaltsexamen. Er muss so Mitte zwanzig gewesen sein. Schon damals war er verschlossen, unnahbar, nur manchmal war er plötzlich wahnsinnig gut gelaunt und alberte herum. Alceo ging zur Uni, träumte aber von der Filmschule in Rom. Er war der typische Rebell, der gegen alles und jeden war. Oder besser gesagt, der gern gegen alles und jeden gewesen wäre, und wenn er nicht zu Hause war, spielte er den Linksintellektuellen, aber vor seinem Vater traute er sich das nicht. Marilena ...«
Sandra versuchte sich die blutjunge Medizinstudentin Marilena ins Gedächtnis zu rufen.
»Die war völlig fanatisch. Sie studierte wie besessen, war ehrgeizig und wild entschlossen, ihrem Vater zu beweisen, dass sie die Beste war. Sie war keine Schönheit, das war sie nie. Eigentlich sieht sie heute besser aus. Damals war sie ziemlich mollig, pausbäckig und zog sich schlecht an, na ja ... «
»Und Giacomo? Wie war der?«
Sandra blickte zur Decke.
»Giacomo strotzte nur so vor Energie. Er hat mir Angst gemacht, auch wenn er nett war«, gestand Sandra.
»Angst?«
»Angst. Ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll. Man spürte, dass man ihn besser nicht provozierte. Er war wie eine tickende Bombe. Die Söhne machten einen möglichst großen Bogen um ihn. Marilena hingegen vergötterte ihn. Und er trug sie auf Händen, weil sie so gut war. Die waren aus demselben Holz geschnitzt. Seine Frau versuchte tunlichst, nicht in die Schusslinie zu geraten. Sie hat ihre Kinder nie vor ihm in Schutz genommen, und wenn er einen seiner Wutanfälle hatte, verkrümelte sie sich.«
Nelly bemerkte, dass in Sandras Schilderung etwas fehlte. Oder besser, jemand.
»Und Magraja? Wie war die damals?«
Sandra sah sie erstaunt an. Stimmt, Magraja ...
»Magraja war wunderschön. Damals war sie vielleicht zwölf und schon eine Schönheit. Doch niemand kümmerte sich um sie, vielleicht, weil sie die Kleinste war oder weil sie so schüchtern und still war. Und außerdem hat Marilena, die sehr viel Einfluss auf ihre Brüder hatte, keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu demütigen und dafür lächerlich zu machen, dass sie in der Schule nicht richtig mitkam. Sie war brennend eifersüchtig auf sie. Vielleicht weil ...«
Sandra legte die Stirn in Falten.
»Einmal waren wir Jüngeren alle zusammen. Es gab irgendeinen festlichen Anlass, und wir hatten gemeinsam zu Mittag gegessen. Wir haben irgendein Spiel gemacht, ein Quiz, ja genau, ein Quiz wie im Fernsehen, und es gab auch Strafen. Magraja verlor
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