Der Fluch vom Valle della Luna
Uhr abends, der Wind ist für die Jahreszeit noch immer ungewöhnlich frisch. Nelly schlürft schweigend ihren Cappuccino. Sandra wartet, auch wenn Geduld nicht gerade zu ihren hervorstechendsten Tugenden zählt. Als sie keine Antwort bekommt, redet sie weiter.
»Klar, was solltet ihr machen, wenn es denn so ist, musste sie es erfahren. Dass sie den Kopf in den Sand steckt, ist typisch für Magraja. Ich mache mir nur Sorgen um ihre Gesundheit. Sie redet mit niemandem und will nur Romeo und Celeste sehen. Ich weiß wirklich nicht, wie das enden soll. Was für eine Geschichte! Wenn das alles stimmt, was ihr behauptet ...«
»Es stimmt, Sa. Es ist alles wahr. Wenn sie den Kopf in den Sand steckt, macht deine Cousine alles nur noch schlimmer. Viele Dinge müssen noch geklärt werden. Ihre Identität zweifelsfrei sicherzustellen ist dabei mit das Wichtigste.« Sie lächelt Sandra an, die seufzt und in langen Schlucken ihren Cappuccino trinkt.
»Du hast ja recht. Aber das ist alles einfach so unglaublich und pervers ... Giacomo war womöglich Teil einer Entführerbande und hat vielleicht die eigene Tochter umgebracht oder umbringen lassen, weil sie behindert war. Und Lorenza? Die muss es doch gewusst haben. Die kann die beiden Babys doch schlecht verwechselt haben. War sie einverstanden? Die eigene Mutter? Wie grauenvoll.«
Nelly reibt sich die müden Augen. Nachts schläft sie wenig und tagsüber arbeitet sie wie ein Tier. Ich leide, wenn ich nicht mindestens acht Stunden schlafe, Tano hingegen ist immer taufrisch, auch nach drei oder vier Stunden Schlaf. Herrlich, diese Liebesnächte, aber sie fordern ihren Preis.
»Dass die kleine Pisu umgebracht wurde, weil sie das Downsyndrom hatte, ist ein besonders grausamer Verdacht. Sie könnte auch einem Unfall zum Opfer gefallen sein, woraufhin die Pisus beschlossen haben, das Simon-Mädchen zu behalten. Sicher ist, dass Annabelles Eltern das Leibchen seinerzeit zweifelsfrei identifiziert haben. Das heißt, entweder hat es jemand absichtlich mit dem Blut der echten Maria Grazia befleckt, oder sie trug es, als sie verletzt wurde. Es könnte sogar sein, dass Giacomo Pisu gar nicht direkt mit der Entführung zu tun hatte und dass die Sogos-Brüder ihm das Kind verkauft haben, weil sie wussten, was mit seiner Kleinen passiert war. Das sind jedoch alles nur Vermutungen.«
»Nelly ... Als du mir von deinem Sardinien-Besuch erzählt hast, hast du gesagt, Panni Sogos sei tot. Seid ihr sicher? Habt ihr das überprüft?«
Nellys Magen zieht sich alarmiert zusammen. In der Akte des Bruders fand sich nur das Entlassungsdatum, nicht das Todesdatum.
»Ich habe zu der Sache nämlich mal ein bisschen recherchiert, auch wenn das nicht einfach war. Nach meinen Informationen ist Giovanni Sogos vor zwei Jahren aus dem Knast gekommen.«
»Genau.«
»Und dann ist er verschwunden. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist. Dass er tot sei, behauptet sein Bruder, aber Beweise gibt es keine.«
Nelly kommt sich saublöd vor. Nein, sie hat das nie überprüft. Sie haben einfach geschluckt, was ein alter Schafhirte ihnen erzählt hat. Maresciallo Salaria hat diesbezüglich auch nichts gesagt, vielleicht hatte er auch keine Ahnung, was mit dem alten Sogos passiert war. Sie springt auf.
»Entschuldige, mein Schatz, aber du hast recht. Sogos könnte noch am Leben sein, und das würde alles ändern. Ich muss der Sache auf den Grund gehen. Trink in Ruhe aus, ich lade dich ein. Den Cappuccino hast du dir wirklich verdient. Das nenne ich investigativen Journalismus, Hut ab.«
Sie zahlt an der Kasse und hastet davon, während Sandra ihr verdattert nachblickt.
XI
Im Morgenlicht ist Olbia wunderschön. Vom Flugzeug aus sieht man die zerklüftete Küste, den Golf, die Buchten. Doch Nelly ist gerade nicht sonderlich empfänglich für Touristenromantik. Seit Sandras Einwand vor zwei Tagen ist ihr Magen wie zugeschnürt. Ich bin ein echtes Genie. Ein alter Schafhirte behauptet, sein Bruder sei gestorben, und ich schlucke es, ohne mit der Wimper zu zucken. Tanos Gesicht, als ich ihm das erzählt habe! Aber jetzt kriegt unser Freund Boboi was zu hören. Entweder, er zeigt mir, wo sein Bruder begraben ist, oder er sagt mir, wo ich ihn finde. Und wehe, er kriegt die Zähne nicht auseinander ... Der Lautsprecher kündigt die Landung an. Sinkflug, sanftes Aufsetzen auf der Landebahn, Ausrollen, Halt. Nelly hat kein Gepäck bei sich, nur eine Handtasche. Sofort steuert sie eine Autovermietung an. Nach den
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