Der Fluch vom Valle della Luna
Formalitäten bringt der Angestellte sie zum Parkplatz, händigt ihr die Schlüssel für einen Ford Fusion aus und verabschiedet sich. Sie schmeißt ihre Tasche auf den Rücksitz und fährt los Richtung Luras.
Trotz ihrer Wut kann sie nicht umhin, erfreut festzustellen, dass hier ein ganz anderes Wetter herrscht als in Ligurien. Die Landschaft ist in strahlendes Sonnenlicht getaucht, und es ist mindestens fünf Grad wärmer. Es ist elf Uhr, und Nellys Laune hellt sich auf. Sie lehnt sich zurück und hängt ihren Gedanken nach. Was wird Boboi Sogos sagen? Wird er auf ihre Fragen antworten? Sie hat nicht die Absicht, bei den Kollegen in Tempio oder den Carabinieri in Luras vorbeizuschauen. Während die Felsen, Sträucher und vom Wind gebeugten Korkeichen an ihr vorbeiziehen und der vertraute Duft durchs offene Wagenfenster dringt, löst sich der Kloß in ihrem Magen allmählich auf. Nelly biegt in die unbefestigte Straße ein, die sie, wie sie inzwischen weiß, direkt zum Garten Eden bringt. Sie steht vor dem Gatter, das den Zutritt zum Privatgelände der Sogos verwehrt. Der Riegel ist nicht mit einem Schloss versehen. Sie öffnet das Gatter und fährt in einer Staubwolke los, ohne es hinter sich zu schließen.
Nach mehreren Kurven bergan verrät ihr das Rauschen des Wassers, dass Sogos’ Hütte nicht mehr weit ist. Nach der nächsten Kurve taucht die Schotterfläche auf, auf der gerade kein Geländewagen parkt, weder der zerbeulte von Boboi noch der brandneue seines Neffen Emanuele. Bei dem Gedanken an die beiden Hunde wird Nelly unruhig. Sie greift nach der Beretta in ihrer Tasche und steckt sie hinten in den Hosenbund. Hoffentlich muss ich sie nicht benutzen. Immerhin ist das hier ein Privatgrundstück, ich bin weder angekündigt, noch habe ich einen Durchsuchungsbefehl, und vor allem habe ich keine Lust, die beiden Hunde kaltzumachen, um meine Haut zu retten.
Vorsichtig öffnete sie die Wagentür und steigt aus. Außer dem Gurgeln der Quelle ist nichts zu hören. Die Schafe sind in ihrem Pferch und glotzen sie neugierig an. Ein wenig weiter weg auf der Wiese grasen vier weiße Kühe. Nelly betrachtet sie fasziniert. Wie schön die sind. Die erinnern mich an die Rinder, die in Castagnole vor die Karren gespannt wurden, als ich klein war. Damals kamen die mir riesig vor. Mein Onkel hatte auch zwei davon ...
Vollkommen eingenommen von den Rindern hat Nelly die Gestalt nicht bemerkt, die lautlos hinter der Hütte hervorgetreten ist und sich heranschleicht. Als sie den pfeifenden Atem und den ranzigen Stallgeruch wahrnimmt und sich umdrehen will, wird sie von zwei kräftigen Händen an der Kehle gepackt. Panisch versucht sie, den Würgegriff zu lösen, der ihr unerbittlich die Luft abdrückt. Ihr wird schwarz vor Augen.
Entferntes Schafsblöken. Hundegebell. Kaffeeduft, gemischt mit Stallgestank. Nelly schluckt mühsam, ihre Kehle schmerzt. Sie öffnet ein Auge, alles ist verschwommen. Sie schließt es wieder. Versucht es noch einmal. Öffnet auch das andere. Versucht sich zu rühren, doch vergeblich. Sie begreift, dass sie an einen Stuhl gefesselt ist. Nach und nach wird das Bild um sie herum klar. Sie sitzt in Boboi Sogos’ Küche, der sich mit dem Rücken zu ihr an der Kaffeemaschine zu schaffen macht. »Boboi ...« Der Mann dreht sich um.
»Ich bin nicht Boboi. Ich bin Panni«, sagt er und zieht seelenruhig den Espresso vom Feuer. Auf dem Tisch, außerhalb von Nellys Reichweite, liegt ihre Pistole. Daneben stehen zwei Espressotassen. Jetzt, da ihr Blick nicht mehr verschwommen ist, ist klar, dass nicht Boboi vor ihr steht. Der Mann ist größer, aber lange nicht so kräftig, sein Rücken ist leicht gebeugt, das Haar fast weiß und dünner als Bobois. Die stoppeligen Wangen sind kaum gebräunt, eher kränklich wächsern. Die auf sie gerichteten Augen sind braun und nicht gelb. Ruhig gießt er den Kaffee in die Tassen, nimmt Nellys Pistole vom Tisch und steckt sie in eine Schublade.
»Lassen Sie mich sofort frei, wenn Sie nicht alles noch schlimmer machen wollen, ich bin ...«
»Ein Bulle, ich weiß. Ich habe Ihre Papiere gesehen. Für mich sind Sie nur jemand, der hier ohne Erlaubnis eingedrungen ist. In mein Haus, auf mein Land. Bewaffnet.«
Seine Stimme ist eisig. Nelly ändert die Taktik.
»Signor Sogos, es stimmt, ich habe mich nicht angekündigt, aber mich deshalb erwürgen zu wollen, erscheint mir ein bisschen übertrieben, finden Sie nicht?«
Der Mann wiegt den Kopf. Er scheint leise in sich
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