Der Fluch vom Valle della Luna
und habe gleich einen Termin. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich mich darauf eingestellt.«
Und wie es ihr leidtut! Die langen Wimpern flattern, und in ihren grünen Augen blitzt ein Funke Ironie auf. Oder Mitleid? Nelly spürt, wie sie wütend wird.
»Ich kann Sie auch gern aufs Präsidium bestellen, wenn es jetzt nicht passt, Magraja.« Sie macht Anstalten aufzustehen, doch Magraja hält sie zurück.
»So habe ich es doch gar nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass ich nicht viel Zeit habe, aber ich bin gern bereit, auf Ihre Fragen zu antworten. Und mir Ihre Neuigkeiten anzuhören, natürlich. Marilena betreffend.«
Sie schenkt ihr ein gewinnendes Lächeln. Für einen Augenblick ist sie wieder die Magraja, die Nelly kennt.
Wer ist diese Frau? Ob Basile recht hat? Oder blüht sie nur, befreit von der Knechtschaft ihres Vaters und ihrer Geschwister, neu auf? Das wäre nur allzu verständlich, zumal wenn das, was Sandra vermutet, wahr ist ...
»Sehr freundlich. Neulich hatte ich Besuch von Ihrer Nichte Susanna.«
»Ich weiß, wir sehen uns täglich, zusammen mit Romeo. Die Ärmste ist verzweifelt wegen ihrer Mutter. Wir machen uns alle entsetzliche Sorgen.«
Sie hat sich hingesetzt und wartet geduldig, was Nelly zu sagen hat.
»Wie war Ihr Leben mit Ihrer Familie, Magraja? Was für ein Verhältnis hatten Sie wirklich mit Ihren Geschwistern? Mit Ihren Eltern? Vor allem mit ...«
Magraja runzelt die Stirn und drückt sich tief in den Sessel. Ihre Körpersprache verrät, dass sie am liebsten verschwinden würde.
»Sie wollen doch nicht schon wieder mit diesen Lügen über meine Herkunft anfangen. Ich bin Maria Grazia Pisu. Wenn Sie deshalb gekommen sind ...«
Nelly legt hastig den Rückwärtsgang ein.
»Ich wollte mir nur ein genaueres Bild über die Familiendynamiken machen. Das ist normal, bei einer derartigen Häufung von Verbrechen oder zumindest ungeklärten Ereignissen innerhalb einer Familie. Ich habe gehört, Ihre Geschwister waren nicht immer nett zu Ihnen. Und Marilena sei besonders eifersüchtig auf das zärtliche Verhältnis ihres Vaters zu Ihnen gewesen.«
Magraja atmet erleichtert durch und entspannt sich, bereit, ihre Wahrheit darzulegen.
»Ich möchte wissen, wer Ihnen so etwas erzählt hat, aber es stimmt, dass meine Geschwister mich manchmal gehänselt haben, weil ich nicht so intelligent und so gut in der Schule war wie sie. Und Jungs sind nun mal wild, das weiß man doch. Hier und da ein grober Scherz ... Aber Papa hat mir nie auch nur den winzigsten Klaps gegeben. Schon möglich, dass Marilena eifersüchtig war. Marilena ist nun mal von Natur aus eifersüchtig.«
»Wirklich? Vielleicht auch auf Sie und ihren Gatten Romeo?«
Einen Augenblick lang starrt Magraja sie sprachlos an, dann bricht sie in schallendes Gelächter aus, das Nelly bei ihr noch nie gehört hat.
»Sie können wohl einfach nicht von der fixen Idee ablassen, dass Romeo und ich ein Verhältnis haben? Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Sie völlig falschliegen, Romeo ist wie ein Bruder für mich. Er steht mir bei, das ist alles.« Und wie weit geht sein Beistand, liebe Magraja? Ziemlich weit, Basiles Fotos nach zu urteilen.
»Und Ihr Vater? Wie hat der sich Ihnen gegenüber so verhalten?«
Die Lider mit den unglaublich langen Wimpern senken sich wie Rollgitter über die Augen, die Unterlippe zittert und Magraja blickt auf ihre Armbanduhr.
»Mein Vater hat mich geliebt und behandelt, wie jeder liebende Vater es tut. Verzeihen Sie, Nelly, aber jetzt muss ich wirklich los.«
Sie steht auf und lächelt entschuldigend. Nelly bleibt nichts anders übrig, als ebenfalls aufzustehen und ihr die Hand zu drücken. Sofort erscheint Celeste – ob sie gelauscht hat? Die sieht ganz danach aus, diese Schnüfflerin – , bringt sie zur Tür und wirft sie wütend hinter ihr zu.
»Valeria, würdest du mir die Adresse von Dottor Sanmarco raussuchen? Attilio Sanmarco, wenn ich mich recht erinnere.«
Nach ihrem ergebnislosen Besuch bei Magraja war Nelly wieder ins Büro zurückgekehrt. Dottor Sanmarco war nicht schwer zu finden gewesen. Der Mann war seit ein paar Jahren pensioniert und wohnte in Ruta di Camogli. Ein- oder zweimal die Woche kam er nach Genua, um seine Stammpatientinnen in einer Praxis in der Via Cesarea zu empfangen, die er sich mit einem Kollegen teilte. Dazu hatte er noch einige Patientinnen, bei denen er Hausbesuche machte, und Lorenza Pisu gehörte dazu. Etwas daran hatte Nelly
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