Der Fluch vom Valle della Luna
vierzig, ist dünn, fast schon magersüchtig. Sie hat braunes, halblanges Haar und wäre gar nicht mal unattraktiv, wenn sie nicht ein so verkrampftes Gesicht machen würde. Marco hat sich den Ausweis geben lassen. Sie ist achtundvierzig Jahre alt. Der Mann ist vier Jahre jünger und müsste jeden Moment aus dem Büro zurück sein.
»Verzeihen Sie, Signora, kannten Sie Dottor Attilio Sanmarco?«
»Aber natürlich kannte ich ihn. Er war mein Gynäkologe. Ich habe gelesen, dass er gerade bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Der Ärmste. Er war ein wunderbarer Mensch.« Sie sieht ihn fragend an. Argwöhnisch.
»Wir wissen, dass Sie und Ihr Mann seiner Stiftung Futuro eine recht erkleckliche Summe gespendet haben. Dreißigtausend Euro, wenn ich mich nicht irre.«
Marco beugt sich zu ihr hinüber, während sie sich unbehaglich gegen die Sofalehne drückt.
»Das stimmt, seine wohltätige Arbeit hat uns angesprochen, wir wollten den Kindern in Schwierigkeiten helfen, auch aus Dankbarkeit. Denn wir ...«
Sie bricht ab, beißt sich auf die Lippen. Marco beendet den Satz für sie: »Weil Sie nach jahrelangen vergeblichen Versuchen endlich das ersehnte Kind bekommen haben, ein Mädchen, das jetzt drei Jahre alt ist.«
Marco wirft einen Blick in seine Unterlagen und lässt absichtlich eine gute Minute verstreichen.
»Dottor Sanmarco hat Sie während der Schwangerschaft und der Hausgeburt betreut. Er hat auch die Geburtsurkunde ausgestellt. Elisabetta, richtig? Ist das hier Ihre Tochter?«
Er steht auf, geht zu einer Kommode, auf der ein paar bunt gerahmte Fotos stehen, und betrachtet eingehend das Bild eines etwa dreijährigen Mädchens. Sie hat dunkle Augen, schwarze Locken, hält eine riesige Eistüte in der Hand und lacht. Marco dreht sich um und sieht, dass Signora Bianchini weint. Sie kann sich nicht mehr kontrollieren. Er geht zu ihr, und sie blickt mit gehetzten, verzweifelten Augen zu ihm auf.
»Sie nehmen sie uns doch nicht weg, oder? Wenn Sie sie mir wegnehmen, bringe ich mich um.«
Sie vergräbt das Gesicht in den Händen.
»Dottor Sanmarco hat Paaren, die keine Kinder bekommen konnten, gegen Bezahlung ›Nachwuchs‹ verschafft. Die Summen schwankten zwischen zwanzig- und fünfzigtausend Euro, entsprechend den finanziellen Möglichkeiten des Paares und der ›Qualität‹ des Kindes. Ohne lange Wartezeiten und lästige Bürokratie. Vom Produzenten direkt an den Konsumenten sozusagen. Auch Irina, seine Hausangestellte, hat zugegeben, dass das Kind in ihrem Bauch gleich nach der Geburt an ein Paar gehen sollte, das es als sein eigenes ausgegeben hätte. Kannst du dir das vorstellen? Die Sache lief schon seit mindestens dreißig Jahren. Die Paare, die wir bisher kontaktiert haben, sind völlig außer sich vor Angst, man könnte ihnen die kleinen Kinder wegnehmen oder die bereits Erwachsenen könnten erfahren, dass sie sozusagen gekauft worden sind. Sie waren dem Doktor allesamt dankbar, und er hielt sich anscheinend für eine Art Wohltäter. Ein moderner Storch, wenn man so will.«
Nelly setzt Tano über die jüngsten Entwicklungen, diesen neuerlichen Auswuchs des Pisu-Falls in Kenntnis. Er schüttelt ungläubig den Kopf.
»Wenn das so ist und alle bekommen haben, was sie wollten, was hat dann Giacomo Pisu damit zu tun? Welches Interesse könnte er an den Machenschaften des Doktors gehabt haben? Er hatte Kinder und wollte sich bestimmt nicht noch eines dazukaufen. Um einen Ersatz für sein ›defektes‹ hatte er sich ja schon selbst gekümmert.«
Tano ist seit ein paar Tagen aus Florenz zurück, um die Gesundheit seines Jungen ist er weniger besorgt als um dessen Tenniskarriere. Das rechte Bein ist mehrmals gebrochen, der rechte Arm ebenfalls, und im besten Fall wird es eine ganze Weile dauern, bis beides wieder voll einsatzfähig ist. Nelly ist nur erleichtert und glücklich, dass er wieder da ist. Sie lächelt ihn an und verzeiht ihm sogar die zynische Bemerkung über Giacomo Pisu.
»Genau, was hatte Pisu mit Sanmarcos illegalen ›Adoptionen‹ zu tun? Wieso hat er ihm monatlich Geld überwiesen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass einem Typen wie dem das Schicksal der Kinder in Entwicklungsländern wirklich so sehr am Herzen lag.«
»Das müsste man Pisu oder den guten Doktor selbst fragen, doch leider stehen beide nicht mehr zur Verfügung. Sicher könnte es sich bei der zum Ersten jeden Monats überwiesenen Summe um eine Erpressung gehandelt haben. Von wegen großzügige Geste. Noch
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