Der Fluch vom Valle della Luna
lassen, und die Briefe sind nur ein dummer Scherz, wie Alceo behauptet und wie auch Ihr Kollege, Hauptkommissar Rivelli, meint. Wenn nur mein Vater vor seinem Tod nicht auch einen Drohbrief erhalten hätte. Den habe ich nach seiner Beisetzung in einer Schreibtischschublade gefunden und dummerweise weggeschmissen. Hätte ich das bloß nicht getan. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was da drinstand, es hatte etwas mit seiner Vergangenheit zu tun. Glaube ich zumindest. Sicher weiß ich, dass er nicht aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt war wie die anderen, er war mit dem Computer geschrieben. Ein paar sardische Wörter waren auch drin. Ihrem Kollegen habe ich nicht davon erzählt, keine Ahnung, warum. Und dann ist da noch etwas, Nelly ...«
»Wie ist Ihr Vater gestorben, Marilena?«
Zum ersten Mal senkt Marilena ihren penetranten Blick und schweigt ein paar Sekunden lang. Dann sagt sie mit unmerklich zitternder Stimme: »Mein Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er wollte den Corso Italia am Zebrastreifen überqueren, dabei hat ihn irgendein Mistkerl voll erwischt. Und ist abgehauen.«
Überrascht runzelt Nelly die Stirn.
»Abgehauen? Haben sie den Fahrerflüchtigen denn gefunden?«
»Leider nein. Es war Nacht, es goss in Strömen, keine Zeugen. Ich bin die Einzige, die von diesem Brief weiß. Deshalb sind die anderen Drohbriefe mir nach dem, was Anselmo zugestoßen ist, in einem anderen Licht erschienen. Ich hab gedacht, vielleicht ... Na ja, jetzt ist Anselmo auch zu Tode gekommen. Durch einen Unfall. Genau wie Papa.«
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, doch der Himmel ist klar und die Luft lau. Der Schnee ist nichts als Erinnerung. Nelly saugt die Abendluft in ihre Lungen und ist froh, die Familie Pisu hinter sich zu lassen. In ihrer gotischen Festung. Das Bild des Innenhofes tut sich wie eine Wunde vor ihrem geistigen Auge auf. Sie meint, den Pipigeruch zu riechen, den Magrajas großzügig verteiltes Lavendelwasser nicht überdecken kann. Sie sieht den schizophrenen Anwaltssohn vor sich, die tablettensüchtige Frau, den rücksichtslosen Bruder, Marilena und ihre Zwangsvorstellungen, den duckmäuserischen Mann, den ganzen Zirkus. Um das Maß voll zu machen, saßen nach ihrer Rückkehr in den Saal alle wieder genauso da wie bei ihrer Ankunft, ganz still und als könnten sie kein Wässerchen trüben. Als hätten sie nicht gerade eine Theatervorstellung – nein, ein waschechtes Psychodrama zum Besten gegeben. Murmelnd hat sie sich verabschiedet, ist hinausgeeilt, noch ehe Sandra sie zurückhalten konnte, hat die Tür hinter sich zugeknallt und sich aus dem Staub gemacht, als wäre ein Rudel rasender Höllenhunde hinter ihr her. Wenn ich ein Familiendrama schreiben müsste, wären die Pisus die idealen Charaktere. Was für Leute! Und die arme Sandra, die nicht mehr wusste, wo sie sich lassen sollte vor Peinlichkeit, mich in diese Grube voller Wölfe – und Lämmer – hineingelotst zu haben. Anselmo Pisus Tochter, die kleine Serena, und diese schöne, geopferte Frau mit dem Namen eines Kleinkinds, Magraja. Von der Alten im Bett ganz zu schweigen. Brrr, zum Gänsehaut-Kriegen. Doch Giacomo, der Vater, hat Drohungen erhalten und ist in einem ungeklärten Unfall ums Leben gekommen, und jetzt ist Anselmo ebenfalls durch einen Unfall gestorben, und auch er hat Drohungen bekommen, wenn auch keine konkreten. Morgen Abend treffe ich mich mit Luca, mal sehen, was er mir zu dem toten Anwalt sagen kann. Seltsame Leute, seltsame Geschichte, und diese aggressive Stimmung ... Wer weiß, wie es um deren Finanzen bestellt ist, wer was vom Vater geerbt hat und wer jetzt von Anselmo erbt. Rivelli prüft das bestimmt. In was für ein Wespennest hast du mich da hineingezogen, Sandra. Der werde ich die Meinung geigen! Just in dem Moment ruft Sandra an und kommentiert lachend den trostlosen Familiennachmittag. Sie ist dermaßen lustig und respektlos, dass Nellys Groll im Nu verfliegt.
»Nelly, ich schwöre dir, ich hab die noch nie so erlebt. Glaubst du, die haben sich ’ne Ladung Koks reingezogen, bevor du kamst? Einerseits wollte ich im Erdboden versinken, andererseits war das eine einmalige Performance, zum Totlachen. Als Giancarlo über den kaum unter die Erde gebrachten Vater hergezogen ist und ihn beschuldigt hat, ihm die Frau ausgespannt zu haben! Der muss total durchgeknallt sein!«
»Ja, mein Schätzchen, und ich leg noch einen drauf, falls du es nicht schon wusstest: Dein kleiner Cousin
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