Der Fluch vom Valle della Luna
Gefahr für sich und andere darstellt, ist es ein Leichtsinn von deinen Cousins, ihn frei herumlaufen zu lassen. Aber das hätten sie sich vorher überlegen müssen.«
Nelly hatte hastig gesprochen, ihre Geduld war drauf und dran, einem weniger positiven Gefühl Platz zu machen. Sandra kratzte sich ratlos am Kopf.
»Du hast recht. Aber weißt du, vorher gab’s den Unfall des Vaters noch nicht und die Drohbriefe schienen völlig bedeutungslos zu sein, jetzt hingegen ... Doch es ist nicht nur das. Marilena hat mir gesagt, sie befürchte, wenn Giancarlo zu weit weg von zu Hause ist und seine Medikamente nicht nimmt, könnte er gefährlich werden. Sie hat ihn in ihrer Klinik bereits ein paar Mal behandelt. Du weißt doch, wie das ist, Nelly. Wenn es um Geisteskrankheit geht, und nicht nur dann, neigen Familien dazu, die Wahrheit zu vertuschen, als müsste man sich dafür schämen. Lieber redet man sich selbst und den anderen ein, dass alles in Ordnung ist. Bis etwas Schlimmes passiert.«
Nelly nahm einen langen Schluck aus der Guinness-Flasche.
»Für wen ist er denn gefährlich? Ich wiederhole: für sich oder für andere?«
»Beides, fürchte ich. Soweit man weiß, beides.«
Sie griff nach ihrer Flasche und trank sie fast in einem Zug leer. Dann leckte sie sich den Schaumbart von den Lippen und sah Nelly unverwandt an. Diese elenden Pisus! Reichte es nicht, dass nach Anselmos Tod wie üblich der Geheimdienst auf den Plan getreten war? Dass sich Volponi mit einer selbst für ihn ungewöhnlichen Unverblümtheit in die Ermittlungen einmischte? Doch das konnte sie Sandra nicht sagen, es wäre Öl auf ihr Feuer gewesen. Sämtliche Medien hatten den Blick auf Genua gerichtet, wo demnächst der Prozess beginnen sollte, einer der wichtigsten der letzten Jahre, und es war nicht auszuschließen, dass Sandras Interesse an ihrer Familie bewusst oder unbewusst berufliche Gründe hatte. Auch einige überregionale Zeitungen hatten Zweifel am Tod des Anwalts geäußert. Spekulationen hatten immer Konjunktur. Doch Sandras dunkle, erwartungsvolle Augen erschienen ehrlich besorgt.
»Wollen sie Giancarlos Verschwinden der Polizei melden? Jedes Mal, wenn er beschließt, sich aus dem Staub zu machen? Ohne klipp und klar zu sagen, dass er womöglich gefährlich ist? Ich finde das von der Familie unverantwortlich.«
»Wenn er bis morgen nicht wieder auftaucht, wollen sie ihn suchen lassen. Noch nicht einmal in den üblichen Schlupfwinkeln bei seinen erbärmlichen Freunden in der Altstadt war er zu finden.«
Nelly wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie musste an den alten Pisu denken, der ins Gras gebissen hatte, ehe er den Tod des Sohnes und das Schicksal des Enkels miterleben musste.
»Dein Onkel Giacomo, was hat der gemacht? War der reich?«
Sandra erzählte das Wenige, was sie von der Familie wusste. Giacomo und Lorenza waren vor rund vierzig Jahren nach Genua gekommen. Alle Kinder waren bereits geboren, die Jüngste, Magraja, war erst wenige Monate alt. Was Giacomo in seinem Dorf Luras getrieben hatte, wusste Sandra nicht genau. Doch, Bauunternehmer. Sie hatten Land, das hatten sie verkauft. Mit dem Erlös hatte er wohl angefangen, in Ligurien und anderen Regionen zu bauen, und damit ziemlich viel Geld gemacht. Von den Kindern interessierte sich keines für den Bau, jeder hatte sein eigenes Ding gemacht. Also hatte er die Firma irgendwann seinem Teilhaber überlassen und sich zurückgezogen. Offenbar hatte er vor seinem Tod einen Haufen Geld an der Börse verloren. Aber arm war er bestimmt nicht. Marilena hatte ihr verraten, dass das Startkapital für die Klinik fast zu hundert Prozent von ihrem Vater stammte. Dazu hatte er ihr mehrere Wohnungen in Sanremo vermacht, in einem Haus, das er selbst einst hatte bauen lassen, sowie eine wunderschöne Wohnung in der Via Corsica. Alceo hatte eine Wohnung in Rom bekommen, die jetzt ein Vermögen wert war, und ein Aktienpaket. Für Anselmo gab es die Wohnung in der Via Rimassa und ein Haus am Meer, in Varigotti. Giacomos Frau bekam eine üppige Rendite aus einem fest angelegten Vermögen und verfügte über die Wohnung, die Nelly gesehen hatte. Die dann an Magraja gehen würde, genau wie die Rendite aus dem Fonds, jedoch nur, wenn sie sich bis zu deren Tod um die Mutter kümmerte. Wenn nicht, wäre der Anspruch futsch. Das war’s, mehr wusste sie nicht, doch das war schon einiges. Die Geschwister waren jedenfalls allesamt sauer und aufeinander neidisch, und bestimmt musste der arme
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