Der Fluch vom Valle della Luna
Rivelli war für Stimmungen besonders empfänglich, was sich schon häufig ausgezahlt hatte. Zerstreut brachte Nelly ihren Schreibtisch in Ordnung und rief sich ins Gedächtnis, was der Kollege ihr von seinem Besuch in der Wohnung des Anwalts, ein Penthaus in der Via Rimassa in Foce, berichtet hatte.
»Du weißt schon, einer von diesen Palazzi aus den Fünfzigern, die auch heute noch ganz okay sind, zumindest, was die Lage angeht, aber der Verkehr ist die Hölle und die müssten dringend mal von Grund auf saniert werden. Na ja, vor vierzig, fünfzig Jahren war das bestimmt ’ne top Lage. Ich komme rein und stehe vor einem Pitbull, der mich aus seinen kleinen, bösen Äugelchen anstarrt, als wollte er sagen: ›Dein letztes Stündlein hat geschlagen.‹ Zum Glück ruft ein zuckersüßes Stimmchen, ›Komm hierher, Honey‹, die haben diese Knochenbrechermaschine doch tatsächlich Honey genannt!, und das Biest macht auf dem Absatz kehrt und rollt sich zu Füßen einer blassen Blondine zusammen, die aussieht wie achtzehn, aber mindestens vierundzwanzig oder fünfundzwanzig sein muss. Die Tochter des Toten, Serena Pisu. Sie studiert Jura, hat sie mir gesagt. Mit ein paar Kilo mehr auf den Rippen und ein bisschen Kollagen in den Lippen wäre die gar nicht so übel. Sie hat mich ins Wohnzimmer geführt. Solide Einrichtung, nix Extravagantes, aber an den Wänden – wer hätte das gedacht? – moderne Kunst bis zum Abwinken. Unser Freund hat moderne und zeitgenössische Kunst gesammelt. Mit Roboterstimme erklärt sie mir die für meine Begriffe nichtssagenden Schinken an der Wand. Ich setze mich und sehe mich um, schalte auf Durchzug und sauge die Atmosphäre ein. Kalt und steril, keinerlei Schwingungen. Oder doch, eine Schwingung gab’s, nämlich die Angst, die ganz entfernt aus der Roboterstimme des Mädchens herauszuhören war. Die Tür geht auf und die Mutter kommt rein. Nicht schlecht für ihr Alter, naturblond, wenn auch inzwischen ein bisschen nachgeholfen. Ihre Augen schießen hin und her wie zwei wild gewordene Spatzen. Das Mädchen kreischt los: ›Hast du deine Medikamente genommen? Du weißt doch, dass du sie nehmen musst! Muss ich mich denn um alles kümmern?‹ Doch die Mutter unterbricht sie mit einer Handbewegung und sagt: ›Geh raus, Serena, es ist besser, ich rede allein mit Dottor ...‹ ›Rivelli, Signora. Wir haben uns bereits kennengelernt, ich kümmere mich um den Fall ihres Ehemannes.‹ ›Rivelli, richtig, wusste ich’s doch.‹ Das Blondchen steht einen Moment lang gaffend da, Honey wittert die verquere Situation, steht knurrend auf und starrt mich an, als könnte nur ich der Schuldige für das drohende Fiasko sein. Dann fasst sich Frauchen endlich ein Herz, packt ihn am Halsband, schleift ihn hinaus und knallt die Tür zu. Die Mutter fordert mich auf, Platz zu nehmen, und lässt sich, nachdem sie sich eine Flasche Portwein und zwei Gläser geschnappt und auf den Couchtisch gestellt hat, aufs Sofa fallen. Ich lehne ab, sie füllt beide Gläser und kippt eines nach dem anderen hinunter. Ich schwöre. Dann blickt sie in den Himmel vor dem großen Fenster und sagt: ›Sie werden bestimmt Untersuchungen angestellt haben, das ist nun mal so üblich, doch das mit meinem Mann war ein Unfall. Davon bin ich überzeugt. Aber wenn Sie trotzdem etwas über uns wissen wollen, sage ich Ihnen gleich, zwischen mir und meinem Mann war seit gut zehn Jahren nichts mehr, wir liebten uns nicht mehr, aber er war ein anständiger Mensch, der stets seine Pflicht getan hat, bedenkt man bloß das Unglück mit Giancarlo und die Tatsache, dass er in den letzten Jahren eine Alkoholikerin als Frau ertragen musste, seit ... seit bei meinem Sohn die ersten Krankheitssymptome aufgetreten sind. Serena war seine einzige Freude, ein großartiges Mädchen, das eine mutigere Mutter verdient hätte. Und eine gesunde. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen, Dottor Rivelli, auf Wiedersehen.‹ Und dann ist sie rausgetorkelt. Honey kommt rein, überglücklich, mich jetzt endlich ungestört in Stücke reißen zu können, also greife ich in die Tasche und entsichere meine Pistole, bereit, zur Not auch ein Loch in meine Jacke zu schießen. Da kommt die Kleine rein, jagt ihn raus und setzt sich zitternd. Sie sagt, es tue ihr leid, ihrer Mutter gehe es schlecht und sie wisse nicht, was sie von der ganzen Geschichte halten soll, und falls jemand ihren Vater umgebracht habe, so könne das nur ein niederträchtiger, gemeiner Mörder gewesen
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