Der Fluch vom Valle della Luna
die Szene wieder ins Gedächtnis. Während der Essensduft und das Stimmengewirr in ihrem Geist wieder auflebten, fingen die Personen an, sich wie auf das Kommando eines Theaterregisseurs zu rühren. Klappe.
Sie allein am Tresen. Die Crew kommt rein, sie sieht Alceo Pisu, erkennt ihn. Er dreht sich zu ihr um und erkennt sie ebenfalls. Kurzes Plaudern, dann bewegen sich alle in Richtung Treppe und ins oberste Stockwerk der Kneipe, wo ein paar aus der Gruppe bereits einen langen Tisch in Beschlag genommen haben und eng zusammenrücken, um den Nachkommenden Platz zu machen. Sie nimmt jeden Einzelnen in Augenschein. Die Produktionssekretärin, die falsche Blonde, die sie im Haus der Pisu-Mutter gesehen hat. Sofia Lebeau. Durch ihre leicht getönte Pseudo-Intellektuellenbrille wirft sie ihr giftige Blicke zu. Sie hat Alceo neben sich auf die Bank an die Wand gezerrt und versucht, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ob sie eifersüchtig auf Nelly ist? Lächerlich. Neben Nelly, am Kopfende des Tisches, sitzt ein schmächtiger Typ mit Pferdeschwanz und einer riesenhaften Nase, auf deren Spitze eine winzige Brille sitzt. Er trägt ein schwarzweiß kariertes Hemd und eine rote Lederweste. Der leitende Kameramann Walt Wales. Daneben der Produzent, ein großer, bulliger Ami mit heiserer Stimme, Samuel O’Donnell. Noch eine Assistentin, hässlich, knochig, ungepflegt, mit strähnigen roten Haaren, um die fünfunddreißig, Lilian Graves. Neben ihr sitzt die Hauptdarstellerin Evelyn Russel, Shootingstar am Hollywoodfirmament. Wirklich hübsch: dunkelblaue Augen, schwarzes, langes, zum Pferdeschwanz gebundenes Haar. Ein perfektes, schmuckes Liz-Taylor-Gesicht. Schmale Taille, lange Beine, Prachtbusen. Selbst ungeschminkt, in Jeans und schwarzem Pulli zieht sie die Blicke sämtlicher männlicher Anwesender auf sich. Sie wirft dem männlichen Hauptdarsteller Lyndon McDuvell komplizenhafte Blicke zu. Er hat ein ebenmäßiges Gesicht, breite Schultern und engstehende, helle Augen. Seine Ehefrau, eine welkende Schönheit, behält ihn im Auge. Cheryll, neben der die beiden Kinder sitzen. Max, acht Jahre, und Lewis, zehn. McDuvell gibt sich völlig locker und versucht, keine der beiden Frauen zu verprellen: Er hat den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt, küsst sie hin und wieder zärtlich auf die Wange und macht derweil seiner Kollegin schöne Augen. Neben ihm sitzt eine blutjunge farbige Schauspielerin von vielleicht sechzehn Jahren in Begleitung ihrer Mutter. Das Mädchen strahlt Sinnlichkeit aus und sieht aus wie jemand, der weiß, was er will. Die Mutter ist kaum älter als dreißig und wirkt noch schöner und willensstärker. Susan und Shannon Whright. Für das Mädchen ist der Film die erste große Chance. Beide starren Alceo und Nelly an und scheinen sich zu fragen, was zum Henker diese Italienerin an ihrem Tisch verloren hat. Neben Shannon sitzt ein Regieassistent, Tom Charnetzky, glatzköpfig, fett und verschwitzt. Die Tischrunde ist komplett. Die übrigen aus der Truppe waren zu müde und sind bereits ins Hotel zurückgegangen. Während Nelly mit Alceo plaudert, mustert sie jeden mit aufmerksamer Neugier. Ein Kellner kommt, alle bestellen Käse, Wurst und frisceu 1 , die auf Brettchen serviert werden. Die Getränke reichen von Bier über mehr oder weniger teuren Wein bis Cola light und Fruchtsaft. Nelly bestellt ein Glas Dolcetto, Alceo ein großes Weizenbier. Sofia fragt, ob sie abends oft alleine ausgeht, sie nickt grinsend: Bei der Polizei verdiene man schlecht, irgendwie müsse man schließlich über die Runden kommen. Alceo lacht, Sofia dreht ihr beleidigt den Rücken zu. Das Gespräch kommt auf Giancarlo.
Alceo ist kein bisschen verwundert über das, was passiert ist, bei dem Jungen war schon immer eine Schraube locker. Was soll man machen? Die Familie ist voll von Extremen: Genies wie er, Anselmo und auf ihre Art auch Marilena, und Degenerierte wie Giancarlo und Magraja. Die Ärmsten sind total lebensuntüchtig. Und angesichts der Tatsache, dass man nicht weiß, was das genetische Roulette so alles bereithält, hat er schon vor einer Ewigkeit beschlossen, keine Kinder zu haben. Noch so einen wie Giancarlo, nein danke. Wieso, ist denn Magraja wie Giancarlo?, wundert sich Nelly, und Alceo mustert sie. Kalt. Feindselig.
»Ihr Bullen seid auch nie außer Dienst, was?«, schnaubt er genervt. »Wenn du’s genau wissen willst, Magraja ist nicht ganz richtig im Kopf, wenn auch auf ganz andere Art als Giancarlo. Irgendwas
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