Der Fluch vom Valle della Luna
zusammen. Alceo Pisu. Was war daran so komisch? Die Drehgenehmigung hatte es bestimmt lange vor den Ereignissen um Alceos Bruder und seinen Neffen gegeben. Und außerdem hatte Nelly bei ihrem kurzen Zusammentreffen im Haus der Mutter nicht den Eindruck gehabt, als hätte der berühmte Regisseur viel für die Familie übrig. Dem Artikel nach lebte er in Rom und London und weilte häufig in New York und Hollywood. Nelly las, die Hauptdarstellerin sei die amerikanische Schauspielerin Evelyn Russel, der männliche Hauptdarsteller der durch Fernsehserien und Actionfilme berühmte Lyndon McDuvell. Nelly betrachtete sein Foto. Groß, dunkel, ausdrucksvolles, ebenmäßiges Gesicht. In dem Moment kam Valeria mit leuchtenden Augen herein.
»Haben Sie gelesen, Dottoressa? Lyndon McDuvell ist in der Stadt, um einen Film zu drehen. Meine Töchter werden durchdrehen, er ist ihr Lieblingsschauspieler. Ein hübsches Kerlchen, wenn’s davon nur mehr gäbe. Na ja, wir haben hier auch unseren schönen Mann. In einer Krimiserie würde Dottor Esposito eine gute Figur abgeben, finden Sie nicht?«
Nelly musste über Valerias unschuldige Begeisterung lächeln. Zum Glück ahnte sie nichts von ihr und Tano. Niemand im Präsidium ahnte etwas. Sie gaben sich alle Mühe, keinen Verdacht zu erregen. Aber kann man sich immer sicher sein, dass ein Blick oder eine Geste einen nicht verrät? Für Valeria würde ich jedenfalls die Hand ins Feuer legen, die würde nie etwas rauslassen, auch wenn sie’s durchschaut hätte.
»Ich hab’s auch gerade gelesen. Genua mausert sich zum Filmset, vielleicht kommt das ja auch dem Tourismus zugute, von dem alle reden, aber für den keiner was tut. Nun ja, solange die Mehrheit der Ansicht ist, ›Wenn sie kommen, ist es gut, und wenn sie nicht kommen, haben wir mehr Platz‹, ist es mit der Gastfreundschaft auch nicht weit her. Wenn ich daran denke, was Genua alles zu bieten hat an Kunstschätzen und Naturschönheiten – eine Goldgrube, und stattdessen haben die jungen Leute, die in der Tourismusbranche arbeiten könnten, Mühe, einen Job zu finden, oder müssen sogar woanders hinziehen.«
Valeria nickte nachdrücklich. Diese Krittelei war ein beliebter Gesprächsstoff zwischen den beiden – leider auch kein Thema, das zur Verbesserung der Laune beitrug.
»Was hältst du von einem guten Kaffee, Valeria? Wollen wir uns einen aus der Bar bringen lassen, einen richtigen?«
»Gute Idee.«
Valeria ging zu ihrem Schreibtisch, um in der Bar anzurufen, und Nelly riss sich mit Mühe aus den Grübeleien über die Familie Pisu. Inzwischen hatten sie noch einen weiteren Fall auf dem Tisch, in dem die Sachlage ziemlich eindeutig war. Ein Streit zwischen puertoricanischen und marokkanischen Jugendlichen vor einer Disko, in dem es einen Toten gegeben hatte. Das Leben in der Stadt machte eine schleichende, besorgniserregende Veränderung durch. Seit einiger Zeit schlug sich die Globalisierung auf die örtlichen Probleme nieder: Dealerei, Menschenhandel, mangelnde Integration neuer Einwanderergenerationen, Kämpfe um die Hoheit auf dem Drogenmarkt, all das kam nun noch zu den »üblichen«, den ewig menschlichen Gefühlen Neid, Hass, Rache und Gier geschuldeten Verbrechen hinzu. Dann gab es Grenzfälle wie den von Anselmo Pisu, in dem womöglich etwas anderes im Spiel war. Die Global-Bank, der Transfer von Millionen, vielleicht Milliarden. Geldund Machtgier ... Und wieder war sie bei den Pisus. Genervt schüttelte sie den Kopf. Zum Teufel mit Sandras Verwandten. Wenn sie sich trafen, redeten sie inzwischen von nichts anderem mehr. Wie viele Tage waren seit dem Abend vergangen, als Giancarlo und Serena neben Gioia Innocentis Leiche gefunden worden waren? Sie überlegte kurz: zwei Wochen. Es war Anfang März, in der Luft lag eine betörende Frühlingserwartung. Bald würde die Sommerzeit die Tage zusätzlich verlängern und Nellys Laune würde sich heben. Hoffen wir’s. Heute ist Freitag, heute Abend kommt Mau, endlich. Der Gedanke an die Ankunft des Sohnes erfüllte sie mit Freude. Sie schob die Pisus, Tano und die wirtschaftlich-soziale Lage der Stadt beiseite. Mau würde am späten Nachmittag kommen. Sie musste etwas vorbereiten, das über eine schäbige Pizza hinausging. Schweinebraten mit Fritten zum Beispiel. Er liebte das und kochte es sich bestimmt nicht selbst in diesem Loch von WG-Küche. Sie war gerade mit der Planung des Abends beschäftigt, als Tano hereinkam. Kaum hatte er die Tür zugemacht, verschwand die
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