Der Fluch vom Valle della Luna
Autoschlange kroch an Land Richtung Hafenausfahrt. Die Fahrer der zur Abfahrt bereiten Wagen saßen am Steuer und warteten auf das Signal zur Einfahrt in den Schiffsbauch. Alle anderen Passagiere mussten die Gangway benutzen. Winkend stieg Gerolamo aus.
»Wir sehen uns an Bord, Dottoressa.«
Im Empfangsbereich war einiges los, der große Raum war voller Passagiere, die darauf warteten, dass ihre Reisebegleiter aus dem Parkdeck auftauchten. Nelly entdeckte Gerolamo und winkte ihm. Während der Lautsprecher den ersten Turnus im Restaurant ankündigte, zeigte ein Steward ihnen ihre Kabinen und gab ihnen die Magnetkarten für die Türen. Nelly hatte eine Außenkabine in schwindelerregender Höhe über dem Meer. Sie stellte ihre Reisetasche in den Schrank und betrachtete die beiden Betten, von denen eines leer bleiben würde. Hastig sah sie wieder weg.
Sie fanden sich draußen auf Deck wieder. Die Sirene tutete. Die Taue waren gelöst, und das große Schiff glitt träge aus dem Hafen. Kurz darauf waren die Zurückbleibenden auf der Mole auf Ameisengröße geschrumpft. Kraftvoll stieß der Bug durch die Wellen, und die Passagiere blickten fasziniert auf die lichtglitzernde Stadt zurück. Wie eine Fata Morgana. Wie die Sehnsucht all jener, die sie auf der Suche nach einem glücklicheren Leben verlassen haben oder zur See gefahren sind, um sich ihr Brot zu verdienen. So wie Carlo ... Auf einmal hatte sie das Gefühl, er wäre bei ihr, drückte sie lächelnd an sich, und plötzlich war sie erleichtert, dass Tano sie nicht hatte begleiten können oder wollen. Sie betrachtete die vorbeiziehende Küste und versuchte die Orte zu erkennen. Der Lido, Capo Santa Chiara, Sturla ...
»Überrascht über diese unverhoffte Reise, Gerolamo?«, brach sie endlich das Schweigen. Gerolamo wandte die dunklen Augen von dem Lotsenschiff, das sie begleitet hatte und nun in Richtung Hafen verschwand, und sah sie an.
»Das kann man wohl sagen. Aber auf angenehme Weise. Ich kenne Sardinien nicht.«
»Ich war auch noch nie dort. Seltsam, Inseln sind eine ganz eigene Welt ...«
Sie verstummte, schließlich sprach sie mit einem Insulaner. Gerolamo war Sizilianer bis auf die Knochen. Ein leises Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Das stimmt. Ich glaube, auf einer Insel aufzuwachsen ist etwas anderes als auf dem Festland, selbst wenn man am Meer wohnt. Dieses Isoliertsein, das Wasser ringsherum färbt auf die Menschen ab, die dort gelandet sind und sich einen ganz eigenen Lebensraum geschaffen haben, eine Art ...«, vergeblich suchte er nach dem richtigen Wort.
»Heute würde man vielleicht Biotop sagen«, meinte Nelly, und er nickte.
»Im Urlaub fährst du immer nach Hause.«
»Das machen bei uns fast alle. Der Körper ist hier und das Herz in der Heimat. Bei den Auswanderern auch. Deshalb ist es auch so schwer, sich anderswo zu integrieren.«
»Stimmt ... Wie bei deinen Verwandten in Deutschland.«
Gerolamo nickte stumm. Für einen Tag hatte er mehr als genug gesprochen und war davon sichtlich erledigt. Sie wandten sich wieder den Passagieren zu, die die Treppe zum oberen Deck hinauf - und hinunterstiegen.
»Was meinst du, wollen wir was essen gehen?«
Inzwischen hatte die Fähre die offene See erreicht und steuerte der dunklen Nacht entgegen. Auf dem Weg zur Tür kamen Nelly und Gerolamo an den Käfigen vorbei, in denen die Hunde während der Überfahrt untergebracht waren. Die wenigen Tiere machten einen bedripsten Eindruck, in zwei nebeneinanderliegenden Boxen hockten die beiden schwarzen Pitbulls. Das Männchen jaulte unruhig. Die Passagiere strömten in Richtung Restaurant, Self Service und Pizzeria. Nelly und Gerolamo entschieden sich für den Self Service.
Die Atmosphäre war angenehm, das Essen hingegen trostlos. Als sie schließlich bei einem mittelschlechten Kaffee saßen, beschloss Nelly, ihren Chefassistenten auf den neuesten Stand zu bringen und ihm vom Verschwinden des jungen Privatdetektivs zu erzählen, der gehofft hatte, im Heimatdorf der Pisus etwas herauszufinden. Gerolamo hörte aufmerksam zu.
»Was für ein Typ ist dieser Basile?«
»Ein durch und durch anständiger Kerl, und außerdem der geborene Detektiv: Der hat es echt drauf.«
»Sehr gut.«
Nelly beobachtete die Mitreisenden. Ein paar Ausländer mittleren Alters, Franzosen oder Deutsche, meist Paare. Mehr oder weniger junge Italiener, allein oder in Grüppchen. Ein paar Familien mit Kindern. Aufgeregt plappernde Teenagergruppen mit Ruck- und
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