Der Fluch vom Valle della Luna
hinunterzuschlucken.
XVI
In Rekordzeit war alles für die Abfahrt vorbereitet worden. Tano hatte sich mit den Carabinieri in Olbia in Verbindung gesetzt, wo Filippo das letzte Mal gesehen worden war, und die Polizei der dem Heimatdorf der Pisus nächstgelegenen Stadt Tempio über ihre Ankunft unterrichtet. Das Bed & Breakfast war reserviert, die Fähre ebenfalls. Es war später Freitagnachmittag, und während Nelly ein paar Klamotten in ihre vorzeigbarste Reisetasche schmiss, dachte sie darüber nach, dass dies nicht die Reise nach Sardinien war, die sich Frauen normalerweise wünschten. Unschlüssig, was sie bei diesem wankelmütigen Wetter einpacken sollte, hielt Nelly gerade einen dicken grünen und einen weniger dicken blauen Pulli in den Händen, als das Telefon klingelte. Sandra. Ein Blick auf das Display bestätigte ihre Eingebung.
»Ciao, Sa, was gibt’s?«
»Nelly, seit wir bei meiner Mutter waren, geht es ihr nicht gut. Anfangs wollte ich zwischen unserem Besuch und ihrem sich verschlechternden Zustand keinen Zusammenhang sehen, aber jetzt ist es klar. Sie redet nur noch von Sardinien, vom Dorf, von ihrer Jugend. Von den Leuten, die sie dort kannte. Es ist, als wäre sie plötzlich in einer anderen Welt, die sie immer weiter von mir wegdriften lässt. Ich habe sogar einen Psychologen konsultiert, doch der hat nur ein paar Fachtermini heruntergeleiert und alles aufs Alter geschoben. Aber meine Mutter ist noch gerade mal sechsundsiebzig und kein bisschen tüdelig. Sie hat ein Problem mit den Knochen, nicht mit dem Kopf. Oder besser, hatte ...«
Nelly setzte sich aufs Bett. Wieso hatte ich das geahnt? Weshalb überrascht es mich nicht, dass Signora Anna völlig von der Vergangenheit besessen ist?
»Ich bin auf dem Weg nach Sardinien, Sa, dienstlich auch in das Dorf deiner Mutter. Es ist jemand verschwunden, der im Fall deiner Verwandten ermittelt hat, aber wenn du darüber auch nur ein Wort schreibst ...«
»Wofür hältst du mich eigentlich? Wie lange kennen wir uns?«
Sandra musste wirklich sehr angespannt sein, normalerweise schnappte sie nicht so schnell ein.
»Schon gut, Sa. Der Fall lässt bei uns allen die Nerven blankliegen. Was genau ist mit deiner Mutter?«
Ein Seufzen am anderen Ende der Leitung, eine Pause und dann: »Sie redet nur noch über Luras. Inzwischen habe ich fast das Gefühl, als wäre ich selber dort groß geworden. Die Feste des Schutzheiligen hier, die Spaziergänge dort, der Karneval, Ostern, die Freundinnen, der Opa, ihr Vater ... Wie ein Dampfkochtopf, von dem man den Druck ablässt. Ich frage mich, mit was für einem Bann meine Großmutter die Vergangenheit belegt hat, dass Mama nicht nur all die Jahre darüber geschwiegen, sondern sie komplett verdrängt hat. Jetzt kommt alles raus, wie im Delirium. Ich mache mir Sorgen, Nelly, große Sorgen.«
»Hat sie irgendwelche Namen genannt?«
»Sie nennt die ganze Zeit Namen. Ein Wasserfall von Namen. Verwandte, Freunde, Bekanntschaften, die erste Liebe, ein gewisser Saro, und vor allem der Schmerz um den Verlust des Vaters. Ach, es ist rausgekommen, dass meine Großmutter meinte, Zio Samuele hätte ihn umgebracht oder den Mord in Auftrag gegeben. Mama redet total lauter so wirres Zeug. Vielleicht war meine Großmutter verrückt und hat ihr diese kranken Ideen eingetrichtert. Das hat sie all die Jahre mit sich rumgeschleppt, die arme Mama.« Ein kurzes Schweigen, das Nelly nicht unterbrechen wollte, dann: »Was glaubt ihr in Luras zu finden? Es wird keinen Fitzel an Beweisen mehr geben, vorausgesetzt, es gäbe etwas zu beweisen. Alles seit ewigen Zeiten begraben. Und soweit ich die Sarden kenne, werdet ihr auf eine Mauer des Schweigens stoßen. Ach, du hast mich nach Namen gefragt. Es gab eine enge Freundin, eine Amalia Sanna, mit der hat sie sich geschrieben, bis ihre Mutter ihr draufgekommen ist und ihr den Kontakt verboten hat. Wie im Mittelalter. Dann gibt es so eine Art schwarzen Mann, wie soll’s auch anders sein. Ein struppiger, halbwilder Hirte, der kam und ging, im Dorf Käse verkaufte und den Kindern Angst machte. Vielleicht arbeitete er für die Pisus oder für die Seccis. Er kam irgendwo aus dem Landesinneren. Sie nannte ihn ... Sogos? Sie weiß es nicht mehr genau.«
»Bitte schreib dir die Namen dieser Leute auf.«
»Was glaubst denn du, ich bin Journalistin, das habe ich schon längst. Sämtliche Notizen stehen dir zur Verfügung, und dann schreibe ich noch einen dicken Roman darüber, mit dem ich
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