Der Fluch vom Valle della Luna
die Bundesstraße 127 bringt sie zwischen flachen Bergen, Hügeln und kleinen Ebenen hindurch ihrem Ziel entgegen. Es ist nicht kalt, Nelly lässt das Fenster herunter und schließt die Augen. Ein intensiver Duft steigt ihr in die Nase.
»Ganz schön viele wilde Olivenbäume hier«, bemerkt Gerolamo. Basile nickt.
»In der Nähe von Luras gibt es hundertjährige, sogar einen tausendjährigen Oleaster. Und das Werkzeug, mit dem die accabadora ihre Sterbehilfe leistete, war eine Art Hammer aus Oleasterholz.«
»Die Accabadora? Wer war das?«
Mit wichtiger Miene klärt Basile sie auf. Das waren Frauen in der Gallura, die gerufen wurden, wenn jemand allzu lang mit dem Tode rang, eine Art umgekehrte Hebamme, die den Austritt aus dem Leben erleichterte.
Nelly und Gerolamo sind platt. So etwas haben sie noch nie gehört. Bis wann wurde das praktiziert? Und woher kam dieser seltsame Name? So genau ist Basile nicht informiert. Er nimmt an, bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vielleicht, oder auch etwas länger. Und was den Namen betrifft, kommt der wohl aus dem Spanischen, von acabar , beenden. Nelly denkt nach. Die Beenderin. Die hatten das Problem der Sterbehilfe schon gelöst, die ganze Tragweite und sämtliche Ermessensgrenzen inbegriffen. Auch die anderen schweigen. Denken nach. Das Thema ist brandaktuell.
Nach rund einer Dreiviertelstunde erreichen sie Tempio, das hoch oben auf einem Berg in der Sonne liegt. Gäbe es die farbigen Neubauten nicht, die hier und da zwischen den rosig schimmernden alten Granithäusern aufragen, könnte man die Stadt für eine Naturformation halten. Während sie noch die Ebene durchfahren, fallen Nelly und Gerolamo die seltsamen Bäume auf, die ringsumher wachsen, verkrümmt, im rechten Winkel gebogen, teils ohne Rinde. Einige sind dunkel, andere rosig wie verletzte Haut. Nelly ist die Erste, die ihr entferntes Wissen über die Insel mit den eigenartigen Bäumen in Verbindung bringt.
»Das sind Eichen, Korkeichen! Stimmt’s, Basile?«
»Ganz genau, Dottoressa. Und sehen Sie dort«, er zeigt nach links auf eine Fabrik, in deren Hof sich Hunderte große Rindenstücke stapeln und auf die Weiterverarbeitung warten. Kurz bevor es in die Berge hinaufgeht, zeigt ein Schild nach rechts Richtung Luras. Hier ist also das berühmte Dorf der Pisus. Nach all dem, was ich gehört habe, bin ich wirklich gespannt. Aber zuerst kümmern wir uns um den Jungen.
Dottor Musso hat zu tun, sagt ein Beamter, lässt sie in einem Zimmer Platz nehmen, sammelt ihre Papiere ein und geht hinaus. Die drei fangen an, in den zerfledderten Gewerkschaftszeitschriften herumzublättern, die auf dem Tischchen liegen. Die Zeit verrinnt zäh, und nach einer Weile sind Nelly und Gerolamo über sämtliche ihnen ohnehin bereits bekannten Probleme ihres Berufsstandes mehr als im Bilde. Die Kommissarin sieht auf ihre Uhr, sie hat die Nase voll. Sie steht auf und geht in das Zimmer, in dem der junge Beamte hinterm Schreibtisch sitzt und auf seinen Computerbildschirm starrt.
»Hören Sie, wir haben es ziemlich eilig. Braucht Dottor Musso noch lange?«, fragt Nelly energisch.
Der Junge sieht verdattert auf. Basile und Gerolamo haben sich zu Nelly gesellt und machen grimmige Gesichter. Der Beamte räuspert sich hüstelnd. Offensichtlich weiß er nicht, wie er reagieren soll. Die Papiere liegen neben ihm auf dem Schreibtisch, Nelly greift danach und hält sie den beiden anderen hin.
»Ich nehme an, die haben Sie kontrolliert. Also, Herr ...«
»Califano Matteo.«
»Califano Matteo, wir sind extra aus Genua gekommen, um in einem wichtigen Fall zu ermitteln, und das, was Filippo De Magistris zugestoßen ist, steht möglicherweise damit in Zusammenhang. Wären Sie also bitte so freundlich, Ihrem Vorgestzten zu sagen, dass wir ihn dringend sprechen möchten? Wir werden ihn nicht lange aufhalten.«
»Das stimmt mich aber froh, Dottoressa ...«
Nelly dreht sich um und steht einem korpulenten Mittvierziger mit fortgeschrittener Halbglatze gegenüber. Die Uniform zwickt an allen Enden. In den dunklen Augen nicht ein Hauch von Freundlichkeit.
»Rosso. Dottoressa Rosso, Kripo Genua. Ihre Kollegen haben Sie über mein Kommen informiert.«
»Sicher haben sie mich informiert, aber begriffen habe ich es nicht. Wollen Sie mir bitte erklären, was Sie so dringend herführt?«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir in Ihr Büro gingen? Dann kläre ich Sie rasch auf.«
Nellys Geduldsfaden ist zum Zerreißen gespannt, doch
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