Der Fluch vom Valle della Luna
trat in die Dunkelheit hinaus.
Inzwischen war es so kühl geworden, dass Nelly hastig in ihren Pullover schlüpfte, den sie sich um die Taille gebunden hatte, weil sie am Morgen noch darin geschwitzt hatte. Ein dichter Nebel hatte sich über alles gelegt und gab der Landschaft, die wenige Stunden zuvor noch so freundlich gewirkt hatte, etwas Düsteres, Unheimliches. Die einzige Laterne in der von Mauern gesäumten, unbefestigten Straße sandte ein trübes Licht aus, das nicht den Boden erreichte. Ringsherum war niemand zu sehen. Weit hinter ihr erhob sich Toros Jaulen, und plötzlich wurde Nelly von einer bösen Vorahnung erfasst. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, um Gerolamo und Basile anzurufen, und drückte hektisch auf den Tasten herum. Nichts. Kein Netz. Sie drückte die Taschenlampen-Funktion, ein winziges Licht leuchtete auf. So sieht man mich sofort. Hastig machte sie die Lampe wieder aus und ging schneller, vorsichtig, um nicht zu stolpern oder hinzufallen. Sie fühlte sich einsam und schutzlos auf dieser Straße und in dieser Welt, die ihr plötzlich fremd und feindselig erschien.
Mit Nellys Orientierungssinn war es nicht weit her, doch sie war sich sicher gewesen, in Richtung Dorf zu gehen. Nach einigen Minuten allerdings musste sie feststellen, dass weder Straßenlaternen noch Häuser auftauchten. Verflucht seien die Pisus und ihr Dorf, wenn sie es nicht schon sind. Was für ein Wetterwechsel! Offenbar spielt selbst das Barometer verrückt, wenn man von ihnen redet. Also, wenn ich mich gerade vom Dorf wegbewege, dann muss ich nur umdrehen und in die andere Richtung gehen. In dem Moment hörte sie ein asthmatisches Röcheln, es war ganz nah, links von ihr. Nur selten hatte Nelly ein so instinktives Gefühl von Gefahr gehabt. Unwillkürlich nahm sie vor dem Röcheln Reißaus, machte kehrt und rannte blind in die Dunkelheit. Die Straße führte jetzt bergan. Na klar, verdammt, ich bin bergab gelaufen, also weg vom Dorf. Mann, bin ich blöd! Nelly hatte Ausdauer, und ihre Augen gewöhnten sich allmählich an das Dunkel. Eine Straßenlaterne tauchte auf – wieder konnte man Toros Gejaule hören, gefolgt von wütendem Gebell, auf das aus der Ferne andere Hunde antworteten –, und die schmale Straße mündete in eine größere, asphaltierte, die ins Dorf führte. Nelly rannte, bis ihr Keuchen das Röcheln hinter ihr übertönte. Dennoch konnte sie den Verfolger nicht abschütteln, und sie hatte ihre Pistole nicht dabei. Ein ranziger Stallgeruch stieg ihr in die Nase, er war nah, ganz nah ... Plötzlich blendeten sie zwei Scheinwerfer, und ein Auto kam mit quietschenden Reifen einen Meter vor ihr zum Stehen. Der Fahrer beugte sich vor Schreck fluchend aus dem Fenster, doch Nelly war so erleichtert, dass sie ihn am liebsten umarmt hätte. Sie blickte sich um, aber da war niemand.
Als sie mit Gerolamo und Basile im von Kerzenschein erleuchteten Tiu Pedru saß, schämte sie sich für ihre urzeitliche Panikattacke. Der Autofahrer, der sie beinahe überrollt hätte, hatte sich als freundlicher Herr mittleren Alters erwiesen, der darauf bestanden hatte, sie auf der Piazza abzusetzen, und der Eindruck, vom Hauch des Todes gestreift worden zu sein, war sogleich verpufft und lächerlich erschienen. Tiu Pedru hatte ihr eilends die letzte Portion Spanferkel vorgesetzt, während Basile und Gerolamo gebannt der Schilderung ihres Treffens mit Signora Amalia lauschten.
»Die Sogos-Brüder, an die Namen erinnere ich mich. Vor allem Gavino Sogos, der ist bei einer Schießerei mit den Carabinieri getötet worden, als ich in Cagliari war. Von den Brüdern weiß ich nichts, aber da kriegt man schnell was raus.«
»Wieso war der in eine Schießerei mit den Carabinieri verwickelt? Was hatte er angestellt?«
Basile zuckte mit den Achseln.
»Eine damals ganz übliche Sache hier in Sardinien. Anfangs kleine Viehdiebstähle, dann immer größere Dinger, eine Messerstecherei, Flucht mit dem Auto, ein Leben auf der Fahndungsliste. Dann hat er sich auf Entführungen verlegt. Der wollte auf keinen Fall geschnappt werden, dieser Gavino. Sogar ein Carabiniere ist bei der Schießerei draufgegangen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Wenn er sich gestellt hätte, wäre er vielleicht mit ein paar Jährchen weggekommen. So hingegen ...«
»Tja, Dottoressa, sich stellen und im Knast landen war völlig ausgeschlossen, damals zumindest. Bei uns war’s genauso ...« Gerolamo schüttelte nachdenklich den Kopf.
Inzwischen war das Lokal
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