Der Fluch vom Valle della Luna
geduckte Vegetation, Geröll, Felsen, wilde Ölbäume, Eichenmoos, Myrtensträucher, kreisende Raubvögel und Wind, heulender Wind. Mist.
»Was meinst du, Gerolamo, fallen wir den Banditen anheim? Hast du die Artillerie mitgebracht?«
Gerolamo grinst.
»Aber klar, Dottoressa. Allerdings ist das hier nicht der Supramonte.«
»Das vielleicht nicht, aber wir sind trotzdem superhoch und haben uns dazu vielleicht noch verlaufen. Und wer sagt, dass es Überfälle nur auf dem Supramonte gibt?«
Gerolamo muss über die offensichtlich genervte Kommissarin lachen. Aber nur ein bisschen, um sie nicht noch mehr zu verstimmen. Am Abend zuvor muss etwas passiert sein, auch wenn sie nicht darüber gesprochen hat. Etwas hat sie beunruhigt, das ist ihm nicht entgangen. Noch eine Kurve, noch mehr Steinchen, die talwärts rieseln, und endlich taucht über ihnen eine Felsengruppe auf, in der Mitte ein Stein in Form eines gen Himmel jaulenden Hundekopfes. Kein Zweifel möglich. Unterhalb der Felsen teilt sich der Pfad.
»Nach links, hat Tiu Pedru gesagt.«
»Genau.«
Ermutigt durch ihren Erfolg legen die beiden einen Schritt zu und betreten einen niedrigen Eichenwald. Wie Hänsel und Gretel, bald kommen wir ans Hexenhaus, oder besser ans Menschenfresserhaus. Nelly hat ihre gute Laune wiedergefunden, auch wenn sie noch nicht weiß, was zum Teufel sie eigentlich vom berühmtesten Käsemacher der Gegend und Bruder toter oder eingebuchteter Banditen will. Ein Geständnis?
Der Pfad biegt nach rechts ab und führt in ein verstecktes kleines Tal hinab.
Nelly und Gerolamo blicken sich verblüfft um. Das Tal liegt völlig geschützt und ist seltsam grün. Der Bach, den sie verlassen hatten, ist erneut zu hören, ganz in der Nähe. Der Wind hat sich wie von Zauberhand gelegt, durch die reglosen Wolken bricht ein Lichtstrahl und legt sich sanft auf die einzigartige Landschaft. Die Vögel ringsum in den Bäumen fangen an zu singen, und irgendwo ertönt das bellende Meckern einer Ziege. Der Garten Eden, denkt Nelly, und Gerolamo raunt leise: »Das Paradies auf Erden.« Sie folgen dem Pfad, der nun fast eben verläuft. Plötzlich versperren zwei riesige, fuchsrote Schäferhunde ihnen den Weg. Sie knurren nicht, sondern stehen einfach nur da.
»Na, ihr beiden Hübschen, wie geht’s?«
Nelly macht einen vorsichtigen Schritt auf sie zu. Die beiden Muskelpakete kauern sich zusammen, bereit zum Sprung. Gerolamo tastet nach seiner Pistole, während die Hunde ihn alles andere als freundlich anstarren. Sie scheinen den siebten Sinn zu haben. Er umklammert die Pistole, zieht sie jedoch nicht.
»Ist hier jemand? Bitte rufen Sie die Hunde zurück oder es passiert ein Unglück«, ruft Nelly. Plötzlich kommt ihr der Pitbull von der Fähre in den Sinn, der dumpfe Schlag des schweren Körpers gegen die Schiffswand. Diese düstere Vorahnung. Abwegig! Da taucht jemand in der nächsten Kurve auf und stellt sich zwischen die Hunde. Ein mittelgroßer Mann, kräftig, zwischen fünfzig und sechzig. Er trägt braune, ausgebeulte Breitkordhosen und grüne Gummistiefel. Unter einer grünen Steppjacke schaut ein kariertes Hemd unbestimmbarer Farbe heraus. Über der Schulter trägt er ein Jagdgewehr. Glücklicherweise scheint er nicht die Absicht zu haben, es zu benutzen. Er trägt keine Mütze, das graumelierte, halblange Haar ist dicht und lockig, sein Gesicht braungebrannt und von tiefen Falten durchzogen.
»Was haben Sie hier zu suchen? Das ist Privatgelände.«
Sein Akzent verrät, dass er normalerweise Dialekt spricht, aber sein Italienisch ist gut. Nelly spürt, dass sie die Situation in die Hand nehmen oder es zumindest versuchen muss. Sie räuspert sich.
»Commissario Nelly Rosso von der Genueser Polizei. Und das ist Chefassistent Gerolamo Privitera. Wir suchen Salvatore Sogos, um ihn zu einem Fall zu befragen, in dem wir ermitteln.«
Als wären sie darauf abgerichtet, fangen die Hunde bei den Worten »Commissario« und »Polizei« zu knurren an. Der Mann legt ihnen die Hände auf die Köpfe, und sie verstummen.
»Sogar aus Genua reisen Sie an, nur um mit Salvatore Sogos aus Luras zu reden?«, fragt er spöttisch. Er macht keine Anstalten, sich zu bewegen. Nelly bemerkt, dass Gerolamo genauso angespannt ist wie die beiden Hunde. Bereit zum Sprung.
»Nicht ganz. Die Ermittlungen betreffen den gewaltsamen Tod von Alceo Pisu, aber ...«
Der Mann greift nach seinem Gewehr, Gerolamo umklammert die Pistole, Nelly bricht der kalte Schweiß aus.
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