Der Fluch von Colonsay
einer Frau, erst laut, dann plötzlich verstummend. Ein Mann stieß wütend und schmerzerfüllt einen Namen hervor. Rosie.
Stille. Alles durchdringende Furcht. Etwas war im Zimmer hinter ihr. Sie wusste es einfach. Eiskalter Schweiß lief ihr in Strömen den Rücken hinab. Der metallische Blutgeruch verschwand, wurde verdrängt vom ebenso entsetzlichen Duft verblühender Rosen.
Rosamund verspürte den Drang, sich umzudrehen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Aber sie wusste, dass sie der Anblick um den Verstand bringen konnte. Sie schob die Hände nach oben, ihre Muskeln verweigerten fast den Dienst. Mit den Handflächen presste sie fest gegen die Tür. Deren Knarzen spielte keine Rolle. Sie drückte fester und begann zu schreien, ohne zu wissen, was. Getrieben von dem Drang, aus dem Zimmer zu entkommen.
Es kam Rosamund vor, als seien Stunden vergangen, während es in Wirklichkeit sicher nur ein paar Augenblicke gewesen waren. Dann wurde von der anderen Seite gegen die Tür gedrückt. Da war Kerrys Stimme und auch Garys. Plötzlich sprang die Tür auf und stieß Rosamund um. Sie fiel zwischen moderige Bücherstapel und alte Möbel, ihre ausgestreckte Hand knallte gegen den Schreibtisch.
Den Schmerz spürte sie kaum. Sie versuchte schluchzend, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. In der offenen Tür erschienen zwei sorgenvolle Gesichter.
»O Gott, Rose!« Gary half ihr auf die Beine, presste sie gegen seine Brust.
»Rosamund.« Kerry klang entsetzt.
»Der Hund«, stieß Rosamund hervor. »Das Blut.« Sie stieß ein Winseln hervor und biss sich sofort auf die Lippen, um es zu unterdrücken. Gary hielt sie so fest umschlungen, dass sie kaum Luft bekam. Aber auch das genügte nicht, um die Erinnerung an das eben Geschehene auszulöschen.
Noch während sie sich von seiner Nähe tröstlich umhüllen ließ, wurde ihr klar, dass er ihr nicht dabei helfen konnte, das Rätsel um Colonsay zu lösen. Niemand konnte ihr dabei helfen, nur sie sich selbst.
***
Als Alice erwachte, war es dunkle Nacht. Sie lag lange Zeit ruhig da, ordnete ihre Gedanken, die in Unordnung geraten schienen wie ein auf dem Fußboden verstreutes Kartenspiel.
Im anderen Bett konnte Alice Meggys leisen Atem und ab und zu ein Schnarchen hören. Die Kommode war ein dunkler Schatten am Ende des Betts. In dem winzigen Ofen glühten noch Kohlen. Alice roch die Asche, und ihr wurde ein wenig übel.
Bertie ist tot.
Sie schob den Gedanken so schnell zur Seite, wie er aufgetaucht war. Draußen regte sich kein Laut. Es war, als ob die Welt aufgehörte hätte zu existieren. Alice versuchte, sich den Garten und die Bäume vorzustellen, doch stattdessen kamen ihr Bilder von Bertie in den Sinn, der zerfetzt auf den Schienen der Eisenbahn lag. Ein wildes Schluchzen stieg in ihr auf, das sie gewaltsam zurückdrängte.
In weiter Ferne, irgendwo draußen in der Bucht, erklang eine Glocke. Nebel. Dichter, tief hängender Nebel.
Bertie ist tot.
Das Schluchzen kam zurück, und dieses Mal konnte sie es nicht zurückhalten. Es drängte so mächtig hervor, dass es sich noch verstärkte.
Meggy drehte sich um. Das Bett knarzte.
»Bertie ist tot«, flüsterte Alice vor sich hin.
Das konnte nicht sein! Was hatte Mrs Gibbons gesagt? Hätte Alice nicht dafür gesorgt, dass er wieder zur Schule zurück musste … Nein! Das durfte sie nicht denken. Wenn jemand für Berties Tod verantwortlich war, dann seine Mutter. Alice hatte alles versucht, damit sie etwas unternahm und Bertie zu Hause bleiben konnte. Umsonst. Ambrosine hatte nur gelacht. Gelacht!
Alice spürte den kalten Boden unter ihren Füßen, und ihr wurde klar, dass sie an der Tür stand. Wut und Verzweiflung verlangten nach Taten. Sie musste etwas unternehmen. Wenn sie im Bett liegen blieb, würde ihr Kummer sie umbringen. Wie Bertie.
Die Stufen wurden von der Lampe auf dem Treppenabsatz erhellt. Alice ging über die Stelle hinaus, an der sie vorhin gestürzt war. Es war sowieso alles egal, jetzt, da Bertie nicht mehr lebte.
Im Westflügel herrschte Stille. Ada schlief. Wusste und verstand sie überhaupt, was ihrem Bruder zugestoßen war? War ihr klar, wozu ihr Petzen geführt hatte? Die Fragen schossen so schnell durch ihren Kopf, dass für Antworten dazwischen keine Zeit blieb.
Hatte er den Zug nicht gehört oder gesehen? Und warum war er überhaupt auf die Gleise gegangen? Sie sah ihn vor sich, die kleine pummelige Gestalt, die dicken Brillengläser, das Blinzeln. Vielleicht hatte er geweint,
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