Der Fluch von Colonsay
hatte Kerry verärgert gebrummelt. »Ihre Eltern starben, als sie noch ein Kind gewesen ist, und dann fiel ihr Ehemann in Frankreich.«
»Ist dir eigentlich schon einmal aufgefallen, dass meine Kindheit mindestens genauso schlimm war? Auch ich habe meine Eltern verloren.«
Kerry war stur geblieben. Hatte geschwiegen. Rosamund hatte ihren Atem gehört.
»Du denkst, ich bin selbst an meiner Lage schuld, richtig?«, hatte sie geflüstert, während ihr Ärger verlosch. »Du denkst, es war falsch, sie zu verlassen? Einfach wegzurennen?«
»Dir ging es besser als vielen anderen Mädchen.« Rosamund hatte sich über den Tonfall gewundert. »Du hast das einfach alles beiseitegeschoben. Für die Singerei!« Sie hatte die Augen zum Himmel verdreht. »Ada Cunningham hat dich geliebt und sich um dich gesorgt, und du bist einfach gegangen. Ihre letzten Worte galten dir. Hast du das gewusst?«
Rosamund hatte stumm den Kopf geschüttelt.
»Na, dann weißt du’s jetzt. Ich habe bis zum Schluss ihre Hand gehalten, habe mich um die Beerdigung und ihre ganzen Sachen gekümmert. Und du? Du bist nicht einmal zur Beerdigung erschienen. Nicht einmal hinterher, um dein Erbe anzutreten. Sie hat all die Jahre am Existenzminimum dahingekrebst, damit du einmal dieses Haus bekommst. Ausgerechnet du!«
Rosamund hatte nie zuvor gehört, dass Kerry einmal die Stimme erhob. Sie hatte das bisher nicht für möglich gehalten.
»Sie hat das nicht für mich gemacht«, war schließlich ihre lahme Antwort gewesen. »Sie hat das alles für sich selbst gemacht. Sie lebte in der Vergangenheit, in Colonsays Vergangenheit. Sie konnte woanders gar nicht existieren. Oder kannst du dir Ada in einem Seniorenheim vorstellen? Dass sie jeden Tag Seifenopern im Fernsehen anschaut, Karten mit den anderen Bewohnern spielt und Socken für den jährlichen Bazar strickt? Sie hat das alles nur für sich gemacht. Um mich hat sie sich nur gekümmert, weil sonst ein schlechtes Licht auf den Familiennamen gefallen wäre, nicht aus Zuneigung. Sie hat mich nie geliebt.«
Kerry hatte den Kopf geschüttelt; ihre braunen Augen schimmerten feucht. »Du bist genauso dickköpfig wie sie. Du ähnelst ihr so sehr, Rosamund! Siehst du das nicht?« Dann hatte sie sich umgedreht und war gegangen.
Völlig versteinert hatte Rosamund ihr hinterhergestarrt. Genau wie Großmutter Ada? Das war ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Als die Stille in ihr zu wirken begann, fiel ihr auf einmal ein, dass sie gar nicht nach Adas letzten Worten gefragt hatte. Vielleicht war es ja besser, sie nicht zu kennen.
Als dann Gary mit seiner Geisterjäger-Ausrüstung erschienen war, hatten Rosamund und Kerry einen Waffenstillstand geschlossen. Kerry beschäftigte sich in der Küche, sagte so wenig wie möglich und mied Rosamunds Blick. Rosamund saß in der Tür nach draußen, rauchte, trank Kaffee und verhielt sich ansonsten genauso.
Während des Abendessens gab es dann erneut einen unangenehmen Zwischenfall. »Sollte Mr Markovic anrufen, kann ich ihm dann sagen, dass Gary über Nacht hierbleibt?«, fragte Kerry unschuldig.
Rosamund spießte eine Bohne mit der Gabel auf. »Ja, warum denn nicht?«
Gary sah von seinem Teller auf. »Verursacht meine Übernachtung irgendwelche Probleme?«
»Nicht für mich«, verkündete Rosamund.
Er betrachtete die verschlossenen Gesichter der beiden Frauen und wurde unsicher. »Vielleicht bilde ich mir nur etwas ein. Vielleicht wollt ihr meine Hilfe gar nicht? Ich kann sofort verschwinden. Und wenn es noch einmal Schwierigkeiten gibt, ruft ihr die Polizei.«
»Ich möchte, dass du bleibst.« Rosamunds Stimme klang viel zu laut. Man merkte ihr den Schrecken an. »Ich möchte, dass du bleibst«, wiederholte sie leiser und lächelte. »Ich fürchte mich. Das kann ich ruhig zugeben, auch wenn Kerry sich das nicht eingesteht. Und wenn du uns helfen kannst, diese … diese Angelegenheit in den Griff zu bekommen, werde ich dir sehr dankbar sein. Also bleib doch bitte.«
Er sah sie an, als wollte er die Ernsthaftigkeit ihres Vorschlags prüfen, und nickte dann. »In Ordnung, ich bleibe.«
Kerry hielt den Mund und vertilgte ihr Abendessen.
Sie nahmen ihren Kaffee mit in die Bibliothek. Diese war wegen der ungeordneten Bücherregale, der Ledersessel und des Blicks durch das große Fenster in den Garten zu Rosamunds Lieblingszimmer geworden. Auch wenn die verblichenen Samtvorhänge geschlossen blieben, war der Garten für sie immer noch gegenwärtig.
Weiße Rosen,
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