Der Fluch von Colonsay
ist so freundlich, sich bis heute daran zu erinnern.«
»Und du weißt das zu schätzen, Alice. Das tust du doch?« Er nickte ihr zu, als würde er sie gerade skizzieren. »Du bewunderst Mr Cunningham. Er ist ja auch ein bewundernswerter Mann, das gebe ich durchaus zu. Doch auch bewundernswerte Männer sind nicht fehlerlos. Oder glaubst du das etwa?«
»Ja, sicher«, war Alice’ loyale Antwort. Du bist es jedenfalls nicht, dachte sie.
»Dann ist er wirklich ein Ausbund an Tugend.«
Schweigend blickten die beiden über die Bucht. Unten am Strand rannte Meggy auf einmal los; ihre Röcke wallten wie eine gestrandete Qualle. Alice dachte, sie würden fangen spielen wie die Kinder, und erwartete, dass Jonah hinter ihr herrannte. Aber Jonah blieb einfach stehen, wo er war, während sich Meggy von ihm entfernte. Cleo, die Ada keine Stöckchen mehr bringen wollte, begann hysterisch zu kläffen und setzte dann Meggy nach.
»Haben sich die beiden gekabbelt?« Mr Marling schien neugierig zu sein. Er interessierte sich sowieso für alles und jeden.
»Wenn, dann ist es bestimmt nicht Meggys Schuld«, stellte Alice in scharfem Tonfall fest. Das bereute sie jedoch sofort, als Mr Marling sie wieder prüfend ansah. »Ich wollte sagen, Sir, sie hält ihren Bruder für vorbildlich.«
»So ist das also. Und du bist anderer Meinung?«
Sie wusste nicht, ob er sie necken wollte, misstraute ihm aber und hielt es für besser, nichts mehr zu sagen. »Ich behalte meine Ansichten lieber für mich, Sir.«
Er lachte lautlos.
Ich habe den Knopf, Sir. Den Knopf, den Sie in Madams Schlafzimmer verloren haben. Die Worte wollten ihr über die Lippen dringen, doch sie hielt sich zurück. Was würde er wohl dazu sagen? Würde er sie bitten, Stillschweigen zu bewahren? Das hielt sie für sehr wahrscheinlich.
Mr Marling war damit beauftragt worden, ein Gemälde von der konstituierenden Sitzung des Parlaments zu malen. Doch ein Skandal konnte einen raschen Gesinnungswandel bei seinen Auftraggebern bewirken. Mit Sicherheit würde Cosmo seine Meinung ändern. Nein, Mr Marling würde nicht wollen, dass sie etwas erzählte.
Alice blickte wieder zum Strand. Jonah ging langsam und mit gesenktem Kopf hinter Meggy her. Der Wind zauste sein Haar. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, das plötzliche Zwielicht jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Ich frage mich, ob ich dich um einen Gefallen bitten könnte, Alice.« Alice blickte auf und fragte sich, ob er ihre Gedanken gelesen hatte. »Ich frage mich, ob du mir erlauben würdest, dich zu malen. Du hast ein interessantes Gesicht. Ich würde seinen Ausdruck gerne einfangen – mit den Mitteln, die mir gegeben sind.«
Alice blinzelte überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Ich … das wäre töricht, Sir.«
Ihre Offenheit klang schockierend, aber Mr Marling lachte fröhlich auf. »Hab Nachsicht mit mir, Alice. Ich weiß, dass das Gemälde der ersten Parlamentssitzung eine Herkulesaufgabe ist. Und ich brauchte das Bild von dir als Gegenmittel, zur Entspannung. Wirst du mir Modell sitzen?«
In Alice mischten sich Freude und Furcht. Ihre Mutter wäre erfreut über das Angebot, das wusste sie, ihr Vater eher weniger. Und Bertie? Bertie würde das Ganze vielleicht für einen großen Spaß halten.
Mr Marlings warmherzige Augen bettelten um Zustimmung.
»Also gut, Sir.« Ihre Stimme klang gehemmt und ein wenig nervös. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie ein Bild von mir malen.«
***
Nachdem Marks Wagen abgefahren war, ging Rosamund ins Hinterzimmer und versuchte sich für ihre Sortieraufgaben zu begeistern. Sie war unruhig und brauchte einen Drink oder, besser noch, mehrere. Doch sie widerstand der Versuchung und rauchte stattdessen eine Zigarette nach der anderen.
Niemand hielt sie vom Grübeln ab. Kerry kochte, und Gary arbeitete mit Fred Swann im Westflügel von Colonsay. Bruchstücke von Oldies, die im Radio gespielt wurden, drangen bis zu ihr herunter. Waren Geister so etwas Ähnliches – bruchstückhafte Schemen aus einer weit zurückliegenden Zeit? Konnten nur bestimmte Personen diese Bruchstücke wahrnehmen, oder hing das eher von der Umgebung ab? Rosamund konnte sich nicht entscheiden. Was auch immer sich in Colonsay herumtrieb, war nicht Teil der Vergangenheit. Es war da, hier und jetzt, und es wusste genau, was es wollte.
Rosamund trieb es weiter in die Bibliothek. Die Sonne schien durch die Fenster, und der Staub tanzte in ihren Strahlen. Ein Aufblitzen über dem
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