Der Fluch
dauern manchmal so lange, dass man unwillkürlich nervös wird. Leises Gekicher ist zu hören.
»Doch es sind nur Bilder«, sagt er schließlich. »Jeder Mensch lebt in seiner selbst geschaffenen Bilderwelt …«
Er blickt die Reihen entlang, ja, ich habe das Gefühl, er schaut jeden von uns einzeln an, und auch Ike springt auf und fixiert uns.
»Und was ist dabei das Problem?«
Die nächste rhetorische Frage, wieder verknüpft mit einer langen Kunstpause. Es ist eine Technik, die Brandon perfekt beherrscht. Ich habe dabei stets das Gefühl, er manipuliert mich und sein Gerede von der Freiheit des Denkens ist einfach nur eine Lüge.
Sam Ivy flüstert hinter mir. »Dass die meisten von uns nicht malen können?«
»Wir verwechseln die Bilder mit der Wirklichkeit. Das beste Beispiel ist die Liebe.« Brandon lächelt. »Denkt an Shakespeare, wenn ihr euch verliebt. Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler.«
»He, Rosy-Rose, spielst du die Julia, wenn ich dein Romeo bin?«, flüstert Sam.
Ich spüre, wie meine Irritation langsam zu Ärger wird. Sam, der jede vögelt, die bei drei nicht auf den Bäumen ist, hat mich bisher immer in Ruhe gelassen. Genauso wie Ian O’Connor. Aus gutem Grund. Ein Mädchen mit Glatze – das passt nicht in ihr Beuteschema. Woher kommt also dieses plötzliche Interesse an mir?
»Du hast wohl ziemlich Erfolg bei Jungs, so wie du aussiehst«, höre ich Muriel fragen und in ihrer Stimme liegt etwas Lauerndes, etwas, das über Neugierde hinausgeht. Als hinge von meiner Antwort etwas ab.
»Schau mich an, ich bin ein Zombie für die meisten.«
»Ich habe gehört, wie sie sich über dich unterhalten haben.«
Ich will nicht wissen, was sie über mich reden.
»Sie sagen, dass du Männer hasst.«
Ich schließe die Augen und wünsche das Ende der Vorlesung herbei.
Nein, ich hasse Männer nicht. Ich habe nur Matt zu sehr geliebt.
Plötzlich will ich weg von hier, sehne mich verzweifelt nach meinem Zuhause, nach Boston. Nach meiner Familie.
Aber das Tal hier oben ist meine selbst gewählte Isolation. Und die kann ich um keinen Preis aufgeben.
Dave Yellads Reisetagebuch
Im Tal, 10. August 1908
Ich bin ausgerüstet mit reichlich Proviant, der es mir erlaubt, einige Wochen im Tal zu überleben. In dem Tipi, das ich den Cree abgekauft habe, habe ich mich schnell eingerichtet.
Meine Hoffnung, Shanusk würde die erste Nacht mit mir hier oben verbringen und erst am nächsten Morgen nach Fields zurückkehren, hat sich jedoch nicht erfüllt. Kaum waren wir hier oben angekommen, streckte er mir bereits die Hand zum Abschied entgegen.
»Du bleibst nicht über Nacht?«
»Keiner aus meinem Volk würde es wagen, Coyote herauszufordern.«
»Und doch hast du mich hier hochgeführt.«
»Ihr denkt«, erwiderte er, »unsere Geschichten sind wie Rauch, der vergeht. Aber sie sind das Feuer, das in uns brennt.«
Ich habe einen Übernachtungsplatz auf dem Plateau gewählt, das das Tal überragt. Der Blick auf das Bergmassiv, das seine drei Gipfel in den Himmel reckt, ist atemberaubend. Aber seit Shanusk mich verlassen hat, überkommt mich ein Gefühl des Alleinseins, das ich nie zuvor empfunden habe.
Im Tal, 11. August 1908
Offenbar hat mein Kompass bei dem Transport Schaden genommen. Die Nadel bewegt sich nicht, sondern verharrt Richtung Norden, egal, in welche Richtung ich ihn drehe. Shanusk hat meine wissenschaftlichen Geräte von Anfang an voll Misstrauen betrachtet. Als ich ihm meine Absicht erklärte, astronomische Beobachtungen anzustellen, die Höhe der Berge zu messen, das Gestein zu untersuchen, sah er mich lange an und sagte schließlich: »Du wirst diesen Ort nie verstehen. Er ist heilig. Selbst für unsere Feinde.«
»Bin ich Freund oder Feind?«
»Das entscheide nicht ich, sondern das Tal.«
Im Tal, 12. August 1908
Der Kompass funktioniert immer noch nicht. Ich muss eine andere Möglichkeit finden, die Himmelsrichtungen zu bestimmen.
Im Tal, 14. August 1908
Meine Hoffnung, mithilfe der Sterne meine Position zu finden, scheint sinnlos. Obwohl der Himmel über mir die hellsten Sterne zeigt, die ich je im Leben gesehen habe, finde ich nicht die vertrauten Sternbilder. Und der Polarstern, der den geografischen Nordpol anzeigt, ist nirgends zu entdecken. Es ist ein seltsames Gefühl, unter fremden Sternen zu schlafen.
Im Tal, 15. August 1908
Gestern Abend ging die Sonne über dem Bergmassiv unter, das das Tal überragt. Und als ich heute in den frühen
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