Der Fluch
ist, hat nichts daran geändert. Im Gegenteil.
Ich packe mein Notizheft und meinen Laptop aus. Muriel sitzt neben mir, die Arme verschränkt. Unwillkürlich sehne ich mich nach einem bekannten Gesicht. Wo stecken David und Robert? Von Katie weiß ich, dass sie schwänzen wollte. Chris und Julia sind noch in Seattle auf diesem Autorenfestival.
Ich zucke zusammen, als ich plötzlich einen feuchten Atem in meinem Nacken spüre. Es ist Sam, der sich einen Platz in der Stuhlreihe direkt hinter mir gesucht hat.
»Gibst du mir eine Chance, Rose?«
Ich erspare mir und ihm die Antwort.
O’Connor lacht grölend und gesellt sich zu seinem Freund. »Na, kein Glück, Alter?«, fragt er gönnerhaft. »Sie wäre auch schön blöd, wenn sie sich mit dir einlassen würde. Bei deiner Jagdquote!«
»Meine Quote ist hervorragend.« Wieder Lachen von Sam. Dieses Männerlachen.
Ha Ha Ha Ha Ha.
»Eben! Deine Quote ist zu gut. Rose weiß das, deswegen hast du keine Chance. Sie sucht jemand ganz Besonderen. Stimmt’s, Rose?«
»Meinst du etwa dich?« Er dünstet den Alkohol von seinem gestrigen Besäufnis aus.
»Was wollen die von dir?« Muriel wendet sich zu mir. Diesmal flüstert sie nicht. Sie klingt eher schon aggressiv. Ihre grünen Augen mustern mich, als versuche sie, irgendetwas herauszufinden. Nur was?
Ich zucke mit den Schultern. »Am besten man ignoriert Jungs, die es nie schaffen, aus der Pubertät herauszukommen. Vermutlich ein Hormonproblem.«
»Redest du über uns?« Wieder Sams nervende Stimme. »Kannst du dich nicht zwischen uns entscheiden, Rose?«
Ich drehe mich um und sage ruhig. »Vergesst es. Beide. Ich bin nicht interessiert.«
In diesem Moment schiebt sich ein Junge neben mich in die Bank, den ich nie zuvor am Grace gesehen habe. Und er wäre mir mit Sicherheit aufgefallen. Man trifft nur selten Studenten, deren Kleider keine Falten aufweisen und die sich mehrmals am Tag rasieren. Der raue Duft, der von ihm ausgeht, ist so intensiv, als würde ich meine Nase in sein Rasierwasser halten. Er trägt tatsächlich einen schwarzen Anzug, dazu eine Krawatte und ein weißes Hemd. Seine Schuhe sind so blank geputzt, dass sich das Licht in ihnen spiegelt. Sein Blick fliegt über mich hinweg, als würde er mich nicht bemerken. Doch seine Hand streift kurz meinen Arm, als er sich setzt. Eine seltsame Kälte hüllt mich ein. Überhaupt hat er etwas Geisterhaftes an sich.
Aber ich habe keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Plötzlich ertönt ein Heulen von draußen, gleich darauf gibt es ein ohrenbetäubendes Krachen, das uns zusammenfahren lässt. Ein paar Studentinnen kreischen hysterisch auf.
Ich begreife zunächst nicht, was überhaupt geschehen ist. Dann sehe ich es. Eine Böe hat alle Fenster des Saals auf einen Schlag zufallen lassen. Dabei hätte ich schwören können, dass es draußen absolut windstill war.
Mitten in dem Tumult betritt Brandon den Saal.
Ich starre noch immer zu den Fenstern hinüber, wo sich die Studenten neugierig zusammenscharen. Offenbar hat die plötzliche Windböe draußen einigen Schaden angerichtet.
Der Junge neben mir scheint davon gar nichts mitbekommen zu haben. Er fixiert mich aus seinen schwarzblauen Augen und achtet nicht auf die Aufregung im Saal.
»Wie ist er denn so?«, höre ich ihn fragen.
»Wer?«
»Brandon.« Er deutet nach vorn zum Pult, das Professor Brandon jetzt erreicht hat.
Ich zögere einige Sekunden.
»Er ist okay.«
»Warum musstest du dann überlegen?« Seine Stimme ist leise und rau, er spricht ohne große Betonung.
»Ich … ich wusste nicht, was du meinst.«
Er nickt langsam. »Also, wer ist er?«
Diese Frage ist seltsam.
Wer ist Brandon?
Seit den Vorfällen am Remembrance Day bin ich misstrauisch. Ich bin sicher, dass er in das Verschwinden der acht Studenten verwickelt ist. Er hat sie alle gekannt. Und die Filmrollen von damals waren in seinem Besitz. Aber er schweigt.
Andererseits mag ich seine Vorlesungen. Er hat die Fähigkeit, die kompliziertesten Inhalte einfach und spannend zu präsentieren. Und ohne Übergang, ohne ein paar Worte der Begrüßung, beginnt er wie immer seinen Vortrag.
»Die Welt … Ihre Welt entsteht wo?«
Pause.
»Im Kopf. In Ihrem Kopf. Wir alle machen uns ein Bild von der Welt, und zwar ein subjektives. Jeder von uns erfindet eine Geschichte, die er für sein Leben hält und die er immer und immer wieder erzählt. Sich selbst und anderen.«
Wieder macht Brandon eine seiner berühmten Kunstpausen. Sie
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