Der Fluch
und ich stelle mir vor, dass der Himmel lichterloh brennt. Die dunklen Wolkenschwaden sehen aus wie schwarzer Rauch. Sie reichen bis hinunter auf die Oberfläche des Sees und spiegeln sich im Wasser. Der Himmel hängt hier oben im Tal manchmal so tief, dass ich das Gefühl habe, er verschmilzt mit der Erde.
Der Anblick ist ebenso schön wie beängstigend.
»Dieser Ort ist böse«, höre ich Robert sagen.
Und?
Selbst wenn Robert recht hat, kann ich es nicht ändern. Ich müsste das Tal verlassen, und das will ich nicht. Es ist meine Rettungsinsel, an die ich mich klammere. Der Ort, an dem ich zu mir selbst finden muss. Es ist wie bei Monopoly. Ich gehe zurück auf Los und starte einfach neu durch. Mache sozusagen einen U-Turn in meinem Leben. Okay, ein neues Ich, das ist schwierig. Aber ich will daran glauben, dass ich mich neu erfinden kann.
Von diesen Gedanken motiviert, erhebe ich mich aus dem Sessel. Ich schlüpfe in meine bequeme Jogginghose, setze mich an den Schreibtisch und schalte den Laptop an. Wie gewohnt melde ich mich zuerst in Facebook an, um die neuesten Pinnwandeinträge zu lesen.
JuliaFrost: Gestern Abend haben wir John Green interviewt. Das ist der Hammer!
DavidFreeman: Hat irgendjemand meinen roten USB-Stick gesehen?
BenjaminFox: Sind da Pornos drauf?
Ich muss grinsen. Wie gut! Benjamin hat seinen Humor wiedergefunden, auch wenn er immer noch nicht ans College zurückgekehrt ist. Körperlich scheint er wiederhergestellt zu sein, was ein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie knapp er dem Tod entkommen ist. Aber offenbar hat er immer noch eine Form von Flashbacks und muss deswegen in der Privatklinik bleiben, in die seine Eltern ihn gesteckt haben.
Ich schicke ihm sofort eine Nachricht:
RoseGardner: Welcome back, Ben!
Wenig später seine Antwort:
BenjaminFox: Tu nichts, was ich nicht auch tun würde, meine Schöne.
Ich lächele. Es tut gut, vernetzt zu sein. Außerdem vermisse ich Benjamin. Seinen Witz, seine Fröhlichkeit, seine Energie.
Was gibt es sonst noch Neues?
Eine Einladung von Sam Ivy zu einer Party am Bootshaus für die Freshmen.
Nein, danke.
Nach den Vorfällen im letzten Mai kann ich darauf nun wirklich verzichten. Ich möchte gar nicht wissen, welche Spiele oder Prüfungen sich die älteren Studenten für die neuen ausgedacht haben. Ich bestätige die Einladung nicht. Stattdessen logge ich mich in den Online-Katalog der Bibliothek ein. Bevor ich später noch einmal durch die Apartments der Neuen gehe, um ihre Fragen zu beantworten und sie von ihren Sorgen zu erlösen, will ich mich um meinen Essay kümmern. Der Aufsatz soll die theoretischen Grundlagen meiner Projektarbeit mit dem Thema Metamorphose erörtern.
Das Grace College verfügt über eine in der Wissenschaft viel beachtete Sammlung im Fachbereich Kunst und im Online-Bereich gibt es für uns Studenten diverse Möglichkeiten zu recherchieren. Von aktuellen Kunstzeitschriften über bedeutende Periodika bis hin zu historischen Buchtexten und Quellen – in all das können wir Einblick nehmen, ohne uns vom Fleck zu rühren. Das zumindest haben wir Professor Forster zu verdanken, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass der Online-Bereich allen Studenten zugänglich gemacht wurde.
Ich überfliege, was ich bereits geschrieben habe. Ich habe die Metamorphose in der Biologie und Geologie definiert und bin dann zur Mythologie übergegangen.
»Die Metamorphose in der Mythologie ist der Gestaltenwechsel oder die Verwandlung einer Gottheit, eines mythischen Wesens oder eines Menschen, seltener von Tieren oder Objekten«, lese ich. »Fast alle Kulturen kennen die Metamorphose. Sie kann ein Zeichen göttlicher Macht sein, aber auch die Folge einer magischen Handlung. Eine besondere Form der Verwandlung ist die Versteinerung.«
Bis hierhin bin ich gekommen.
Okay, weiter im Text. Ich beginne, in der Bibliothek systematisch nach Verwandlung und Versteinerung in der mythologischen Schriften zu suchen, und werde schnell fündig.
Lots Frau, die zur Salzsäule erstarrt.
Polydektes, der von Perseus versteinert wird. Und natürlich Medusa. Das Monster mit dem Schlangenkopf. Jeder, der nur einen Blick auf sie wirft, versteinert. Sogar Atlas, Mr Superman. Immerhin trägt er das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern. Diese Geschichte passt zu meinem Bild. Den beiden Köpfen, die ineinander verschachtelt sind.
Ich drucke mir ein paar der informativeren Texte aus und dann beginne ich, konzentriert zu lesen. Wenig später bin ich
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