Der Fluch
vollkommen vertieft und spüre, wie ich in eine andere Welt gleite. Ich arbeite rein intuitiv, springe von einem Text zum anderen, suche unorganisiert nach Informationen, stoße auf Geschichten, zum Teil unglaublich grausam, und gehe völlig darin auf.
Mein Unterbewusstsein ist auf Autopilot geschaltet. Man muss es nur zulassen. Und selbst wenn ich doch immer darauf bedacht bin, die Kontrolle zu behalten, entsteht ein Gedanke daraus, eine Idee, die sich auszuformen beginnt. Sie beschäftigt einen Tag und Nacht. Man wird sie nicht mehr los. Manchmal stelle ich mir vor, dass man unter Drogen in einen ähnlichen Zustand gerät. Fast habe ich Verständnis für Benjamin und seinen Wunsch, sich wegzubeamen.
Das Haupt der Medusa. Immer wieder kehre ich dorthin zurück. Doch was hat es mit mir zu tun? Vielleicht habe ich Angst, dass auf meinem Kopf anstatt Haare Schlangen wachsen könnten?
Aus diesen Gedanken reißt mich ein Signalton. Ich habe eine Nachricht in Facebook erhalten. Wieder Benjamin.
BenjaminFox: Hast du schon das von Johnny Depp gehört?
RoseGardner: Was denn? Ist der neue Film nicht gut?
BenjaminFox: Nein, er hat mit einer anderen rumgeknutscht.
RoseGardner: Depp. Nomen est omen.
Ich will die Unterhaltung gerade beenden, als mein Blick auf die rechte Seite fällt. Zunächst verstehe ich es nicht. Es ist nur eine Abfolge von Buchstaben, die mein Gehirn langsam zu einer Bedeutung zusammensetzt.
Sally möchte mit dir auf Facebook befreundet sein.
Freundschaftsanfrage bestätigen.
Sally?
Sally ist tot.
Die Bilder, die ich so mühsam unter Kontrolle halte, kommen sofort wieder. Eine Welle von Übelkeit überrollt mich.
Ich habe das Gefühl, mein Herz bleibt stehen. Aber ich täusche mich. Es bleibt nicht stehen. Nein, es ist, als ob jemand es in der Mitte auseinanderschneidet. In Stücke reißt.
Eine Träne rollt über meine Wange.
Lautlos beginne ich zu weinen und ich weiß, dass ich so bald nicht wieder werde aufhören können.
Denn ich weine um Sally.
7. Rose
Ist es die laute Musik, die die Luft vibrieren lässt, oder zittere ich einfach nur, als ich den Club Voltaire betrete? Sally.
Fünf Buchstaben, die mich vollkommen aus der Fassung bringen.
Fünf Buchstaben, die meine Sicherheitsschranken einreißen.
Der Raum ist völlig überfüllt. Tische und Stühle stehen so eng beieinander, dass man sich fast nicht bewegen kann. Auf den winzigen Tischen hat man kaum Platz, sein Glas abzustellen. Und der Geräuschpegel ist derart hoch, dass jedes Denken, geschweige denn ein Gespräch, unmöglich scheint.
Dennoch ist der Club jetzt genau das Richtige. Gerade weil er nicht mehr ist als eine dunkle, winzige Bar. Vor gut einem Monat wurde er im Keller eines Campusgebäudes eröffnet und entwickelt sich langsam zu dem angesagten Treffpunkt unter den Studenten. Das liegt an den alkoholfreien Cocktails und vor allem daran, dass diese nicht allzu lange alkoholfrei bleiben. O’Connor und seine Freunde haben immer eine Wasserflasche mit Wodka dabei.
Normalerweise müsste die Security eingreifen, aber sie lässt sich hier selten blicken. Überhaupt, selbst wenn es am Grace College mehr Verbote und Vorschriften als auf jedem anderen College zu geben scheint – keiner kümmert sich wirklich darum.
Jedenfalls – das Chaos um mich herum und die Enge lassen mich ruhiger werden und ich kann nach und nach wieder klar denken. Warum bin ich eben so durchgedreht? Eine harmlose Freundschaftsanfrage – wie kann mich das derart aus der Bahn werfen? Schließlich ist der Name Sally nicht gerade einzigartig. Vermutlich handelt es sich einfach nur um eine andere Studentin vom College. Oder jemand von früher, den ich längst vergessen habe?
Ich sehe mich suchend nach Katie um. Ich habe sie in meiner Panik auf dem Handy angerufen und im Fitnessraum erwischt, wo sie ihr tägliches Programm absolvierte. Glücklicherweise war sie fast fertig mit ihrem Training und hatte Lust, sich mit mir zu treffen. Doch jetzt kann ich sie nirgendwo entdecken.
»Hast du es dir noch mal überlegt, Rosy-Rose?«, grölt es plötzlich hinter mir.
Schon wieder Sam Ivy. Er schwenkt sein Glas und schiebt rücksichtslos seinen verschwitzten Körper durch die Menge, bis er direkt vor mir steht. Ich werfe ihm einen nervösen Blick zu. Das jetzt nicht auch noch!
»Trink etwas mit mir. Komm, ich lade dich ein.«
Ich versuche, rückwärts auszuweichen, aber er ist schneller. Schon liegt seine Hand auf meiner Schulter und ich muss mich
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