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Der Fluch

Der Fluch

Titel: Der Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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du?«
    »Oben in den Ateliers. Jemand … jemand verfolgt mich.«
    »Wer?«
    »Es muss George sein … George Tudor.«
    Einige Sekunden herrscht Stille am anderen Ende. Ich höre etwas rascheln und dann erklingt wieder Mrs Jones’ Stimme.
    »Ich bin sofort bei dir.«
    Ihre Stimme zittert, als ob sie spürt, dass etwas Schreckliches passieren wird.

26. Rose
    Ständig glaube ich, Schritte zu hören, und schwanke zwischen dem Gefühl der Beruhigung, dass Mrs Jones gleich erscheinen wird, und der Angst, jemand anders würde auftauchen.
    Aber ich bleibe, wo ich bin. Ich bringe es nicht fertig, wieder durch die drei Räume zurückzurennen. Ich weiß, meine Beine werden mich keinen Meter mehr tragen.
    Die Minuten verstreichen. Es könnten genauso gut Stunden sein. Einmal friere ich und im nächsten Augenblick fühle ich die Hitzewelle kommen. Die Wände des Raums kommen auf mich zu. Ich fühle mich wieder gefangen wie dort unten in dem Schacht, als ich neben Muriel saß und ihre kalte Hand hielt. Es ist erst wenige Stunden her, aber es erscheint mir wie eine Ewigkeit. Vielleicht hatte ihr Mörder dort in der Hütte auf mich gewartet. Und jetzt … jetzt sitze ich wieder in der Falle.
    Ich höre eine Tür, die lautstark zufällt. Dann leichte Schritte, die in meine Richtung eilen. Das Klacken auf dem Kunststoffboden klingt eindeutig nach Schuhen mit hohen Absätzen, aber ich stehe unter Schock. Ich kann nicht mehr unterscheiden, was Realität ist und wo meine Fantasie Horrorbilder durch mein Gehirn jagt.
    Was, wenn es nicht Mrs Jones ist, die auf mich zugeht, sondern jemand anders? Jemand, der am anderen Ende des Handys ist, vielleicht auf meinen Anruf wartet? Die SMS kommt mir wieder in den Sinn.
    Ich schließe die Augen, will nichts mehr sehen.
    Jetzt höre ich die Schritte ganz in meiner Nähe. Wer auch immer es ist, er ist am Ende des Raums angekommen, bleibt neben der Staffelei stehen und sieht auf mich hinunter.
    »Rose?«
    Mrs Jones’ Tonfall klingt so normal, als würde sie auf dem Campus nach mir rufen. Ich spüre, wie sie sich neben mich kniet.
    »Rose?«
    Endlich wage ich es, die Augen zu öffnen.
    Trotz der frühen Uhrzeit ist Mrs Jones sorgfältig gekleidet. Pumps, Seidenstrümpfe, ein glatt gebügelter Rock, eine weiße Bluse. Dieses Stück Normalität in dem ganzen Wahnsinn beruhigt mich. Ich könnte weinen vor Erleichterung.
    »Was machst du hier oben?«, fragt sie. »Was genau ist passiert?«
    »Ich weiß nicht.«
    Und als sie mich irritiert ansieht, ergänze ich. »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Eine lange Geschichte? Erzähl sie mir.«
    Und das tue ich. Ich kauere da auf dem Boden, Mrs Jones neben mir, und berichte, was passiert ist.
    Mrs Jones verzieht keine Miene. Jegliche Angst fällt von mir ab.
    Ich erzähle alles.
    Ich lasse nichts aus.
    Auch nicht die Geschichte mit J. F.
    Und als ich fertig bin, herrscht dieses endgültige Schweigen, das signalisiert: Alles ist gesagt.
    Doch dann stellt Mrs Jones eine einzige Frage. Die Frage, die ich mir selbst oft gestellt habe: »Warum hast du das Kind bekommen? Warum keine Abtreibung? Oder eine Adoption?«
    Die Frage ist nicht schwer zu beantworten. Nicht mehr.
    »Ich konnte es einfach nicht. Immer wenn ich die Augen schloss, habe ich es mir vorgestellt. Dieses Kind … es war für mich ein perfekter Mensch. Von Anfang an. Ich konnte mir alles vorstellen. Die Zehen, die Finger … und vor allem ihr Gesicht.«
    Die Sehnsucht ist unerträglich. Ich spüre, wie die Emotionen in mir hochschießen, wie sich die Tränen in meine Augen drängen, meine Zähne beginnen, laut aufeinanderzuschlagen.
    Mrs Jones beugt sich zu mir herunter. »Du bist aufgewühlt, Rose. Du solltest etwas zur Beruhigung nehmen, dann reden wir weiter.«
    Sie zieht aus der Handtasche eine Packung mit einem Medikament.
    Ich schüttele den Kopf. Ich will die Wahrheit sehen. Will sie fühlen. Bis ich endlich alles verstehe. Bis sie dieselbe Reinheit besitzt wie der weiße Marmor in meinem Bild. Aber noch fühlt sie sich grausam an.
    »Nein, ich will das nicht«, sage ich.
    »Rose, ich spreche jetzt nicht als Lehrerin, sondern als das, was ich eigentlich bin. Psychologin. Was du durchgemacht hast, ist ein massives Trauma. Du hast eine Freundin sterben sehen. Du hast kaum geschlafen. Dein Verstand schafft es nicht mehr, mit all dem zurechtzukommen. Kein Verstand ist dazu in der Lage, verstehst du das?« Sie mustert mich mit zusammengekniffenen Augen und sieht plötzlich sehr autoritär aus.

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