Der Fluch
eine unglaubliche Energie frei, auch wenn sie Gefahr läuft, mich zu verbrennen.
Jedenfalls war meine Zerstörungswut in diesem Moment so gewaltig, dass ich das Zimmer verwüstete. Diener versuchten, mich zu bändigen. Man rief nach dem Arzt, der inzwischen im Nordflügel des Schlosses ein Zimmer bewohnte, um mich, das Ungeheuer, zu bewachen, das dieses Haus beherbergte.
Schottland, 11. November 1913
Der 11. November wird für immer in mein Gedächtnis geschrieben sein. Meiner Berechnung nach war dies der Tag, an dem ich in diesem Labyrinth gewesen bin. Es wird für immer der Tag der Erkenntnis bleiben.
Die letzten Tage war ich bei klarem Verstand. Die Gewissheit, dass ich nur noch kurze Zeit hier sein werde, macht mich ruhig. Ich war mehrfach in der Stadt, um meine Flucht vorzubereiten. Die Schiffspassage ist bestellt. In drei Tagen werde ich abreisen. Ich weiß, dass ich nie wieder zurückkehren werde. Ich werde an dem einzigen Ort leben, der mir die Erkenntnis ermöglicht, dass der Mensch den Tod überwinden kann. Der einzige Preis dafür ist, die eigene Seele zu opfern. Doch zu diesem Opfer bin ich bereit.
Die Suche wird enden, wenn ich angekommen bin.
Doch ich gehe nicht ohne meinen Sohn.
25. Rose
Ich betrachte das Handy genauer. Es scheint neu zu sein. Irgendein Billigprodukt, jedenfalls keine Marke, die ich kenne. Es ist schwarz mit silbernen Tasten und einem ungewöhnlich kleinen Display.
Ich strecke die Hand aus und berühre es. Dann ziehe ich sie hastig zurück, als hätte ich mich verbrannt. Aber es ist der einzige Weg. Es ist die direkte Verbindung und jede Sekunde erwarte ich, dass das Handy erneut zu klingeln beginnt.
Beim nächsten Versuch bin ich entschiedener und nehme es in meine Hand. Es ist schwerer als mein eigenes und mir ist nicht klar, wie ich es bedienen muss. Aber wer immer hier angerufen hat, seine Nummer ist vermutlich irgendwo gespeichert.
Ich drücke auf verschiedene Tasten, bis das Display aufleuchtet. Es zeigt ein Foto und ich schnappe nach Luft. Ich sehe ein hübsches Mädchen mit langen, sehr langen blonden Haaren, das selbstbewusst, ja geradezu selbstverliebt in die Kamera strahlt. Sie sieht aus, als ob nichts in der Welt sie erschrecken könnte.
Es ist ein Foto von mir. Und ich bin mir fremd. Ein Foto aus der Zeit, als ich merkte, dass mir die Jungs plötzlich nachzulaufen begannen. Ich habe keine Ahnung, wann und wo es aufgenommen wurde.
Ich muss unwillkürlich an die Szene von vergangener Woche in der Bar denken.
Sam Ivy.
Ian O’Connor.
Und George.
Nichts hat sich geändert.
Meine Schönheit ist der Fluch, unter dem ich leide.
Nein, ich will es nicht sehen und drücke es einfach weg.
Die Anrufliste finde ich schnell. Sie zeigt nur eine Nummer. Wieder und wieder. Es müssen über zwanzig Anrufe sein. Nur unterbrochen durch wenige Minuten.
Wer auch immer mich angerufen hat, muss damit rechnen, dass ich zurückrufe. Und genau das tue ich, ohne groß zu überlegen. Ich warte, bis sich die Verbindung aufbaut. Es dauert lange, bis sie zustande kommt. Aber das ist hier oben im Tal nicht ungewöhnlich. Hier scheint alles seltsamen Schwankungen zu unterliegen. Nichts ist sicher.
Es tutet dreimal, viermal, fünfmal. Niemand meldet sich, bis schließlich die Mailbox anspringt. Die übliche Automatenstimme informiert mich, dass der Teilnehmer nicht erreichbar ist.
Ich probiere es erneut. Wieder und wieder. Das Ergebnis bleibt dasselbe. Und ich begreife, wer auch immer mich in der letzten halben Stunde angerufen hat … nur er entscheidet, wann und ob er überhaupt mit mir reden will. Tausend Gedanken jagen durch meinen Kopf. Die Nummer kommt mir nicht bekannt vor, ich habe sie noch nie gesehen. Aber ich bin auch niemand, der Telefonnummern sammelt.
Ich öffne erneut die Balkontür, trete hinaus ins Freie und setze mich auf einen der Stühle. Der Nebel hängt schwer über dem See und die Regenwolken wirken wieder wie eine bedrohliche Macht. Dabei ist es völlig windstill, als ob jedes Leben im Tal erstarrt wäre.
Ich hätte nie gedacht, dass ich die Geduld aufbringen könnte, hier draußen zu sitzen und zu warten. Es ist, als ob die Zeit keine Rolle spielt. Weil ich genau weiß, was passieren wird.
Ich erschrecke nicht, als das Handy in meiner Hand aufleuchtet und heftig vibriert. Ich erkenne den Briefumschlag auf dem Display.
Neue Nachricht.
Es ist so weit. Meine Finger sind ganz ruhig, als ich die SMS aufrufe.
Rose, ich warte auf dich im Atelier.
Es ist kein
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