Der Fluch
mein Leben, das auf den Prüfstand gestellt wird, und deswegen ist es nicht egal, ob ich gewinne oder verliere.
Langsam kehre ich aus dem Labyrinth meiner Gedanken in die Realität zurück. Ich bin fertig. An diesem Bild ist nichts mehr zu ändern. Nichts mehr zu verbessern. Es ist perfekt. Meine Metamorphose ist beendet. Nur dass sie hätte umgekehrt stattfinden müssen. Wie auf dem Bild. Ich müsste tot sein – und Sally leben – oder?
Ich lege die Pinsel aus der Hand und wende mich der Staffelei zu, die danebensteht.
Ich ziehe das Tuch von Muriels Bild. Was erwarte ich? Das Spiegelbild meines eigenen Werkes? Gemalt von einer Toten?
Nein, natürlich nicht. Stattdessen klafft dort, wo einst die beiden Gesichter waren, ein Loch. Die Leinwand ist zerfetzt. Und daraus spricht ein Potenzial an Gewalt, dass mir schlecht wird.
Ich erinnere mich wieder daran, warum ich hier bin. Es ist so, als ob mein Verstand sich wieder einschaltet. Ich glaube fast ein Klicken zu hören, als er einrastet.
Wie konnte ich mich nur so irren?
Ich nehme hier nicht mein Schicksal an. Sondern ich fordere es heraus.
Das ist ein Riesenunterschied.
Und meine Chance.
Und mit dem Gedanken renne ich schon in Richtung Ausgang. Mein Weg gleicht einem Slalomlauf. Überall stehen Gegenstände im Weg, die mich daran hindern, schneller zu werden.
Und dann bringt mich etwas dazu, abrupt stehen zu bleiben. Diesmal ist es kein Geräusch. Es sind die Plastikplanen etwa fünf Meter vor mir, die mich irritieren. Sie schwingen heftiger hin und her als sonst. Und noch etwas. Ich glaube dahinter einen Schatten wahrzunehmen, doch beim nächsten Blick ist er verschwunden.
Los, Rose! Weiter! Weg hier!
Nach einigen Schritten fahre ich herum, weil mich etwas gestreift hat. Das hauchdünne Material der Plastikplane klebt an dem Ärmel meines Sweatshirts. Ich reiße mich los und starre auf den Fleck mit roter Farbe.
Wieder glaube ich aus den Augenwinkeln einen Schatten wahrzunehmen und fahre herum. Doch ich kann nichts erkennen. Jetzt kommt es mir vor, als hätte ich überall Augen und überall spüre ich eine Bewegung. Der ganze Raum, der nächste und der übernächste scheinen zu schwanken.
Überall das Rascheln der Plastikplanen.
Überall Schatten.
Verhaltene Geräusche, die in der Stille umso lauter sind. Die Angst verstärkt sich.
Und von hinten fliegt ein Laut auf mich zu, der klingt, als würde jemand … vielleicht eine Coladose öffnen.
Ich habe immer noch das Handy. Und, meine Hand tastet nach dem Zettel in der Jogginghose, ich habe Mrs Jones’ Nummer.
Oder nein – ich habe das Telefon neben der Staffelei abgelegt. Entweder weitergehen oder umkehren. Ich schätze die Entfernung ab.
Ich treffe die Entscheidung instinktiv.
Ich drehe um. Renne denselben Weg zurück.
Das helle Licht der Lampen brennt in meinen Augen.
Fast glaube ich, einen fremden Atem zu hören.
Ich rechne fest damit, dass mich jemand packt. Als ob alles einem Programm folgt, das ich nicht stoppen kann. Und dann sehe ich es. Mein Bild hat die Position verändert. Es hängt ein wenig schief. Und als ich davorstehe, sehe ich, was passiert ist. Jemand hat es zerstört.
Etwas in mir zerbricht. Die Zerstörung betrifft nur Sallys Gesicht. Die Totenmaske jedoch bleibt unberührt. Ich erkenne meine eigenen Gesichtszüge ganz genau.
Wer auch immer das getan hat, er weiß genau, was er tut. Langsam lasse ich mich auf den Boden sinken. Ich kann nicht mehr. Ich kann das nicht alleine durchstehen. Ich brauche Hilfe.
Das fremde Handy liegt auf dem Tisch neben den Farbtöpfen. Ich taste in meinen Hosentaschen nach Mrs Jones’ Telefonnummer, falte den zerknäulten Zettel auf. Meine Hand zittert, als ich die Nummer eingebe. Immer wieder vertippe ich mich, fange wieder von vorne an, bis sie endlich vollständig auf dem Display erscheint.
Ich überlege einige Sekunden und dann bestätige ich. In meinen Augen dauert es unendlich lange, bis die Verbindung zustande kommt.
Es tutet einmal und noch einmal und schließlich höre ich Mrs Jones’ Stimme.
»Ja?«
»Hier ist Rose.«
»Rose?«
»Ich …«
»Ist etwas passiert?«
»Können Sie kommen?«
»Was ist los?«
Was los ist? Es würde zu lange dauern, um das zu erklären.
Es fällt mir schwer, die Tränen zurückzuhalten, aber ich will nicht weinen. Will den Rest meiner Würde bewahren. Solange ich nicht weine, habe ich das Gefühl, ich kann den Kampf aufnehmen und mich wehren.
»Ich … brauche Ihre Hilfe.«
»Wo bist
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