Der Fluss
nicht abrutschen konnten.
Jeweils vier Querstangen – oben und unten – brachte er auf der ganzen Länge des Floßes an und band sie zu sammen, so fest er konnte. Am Ende war das Floß so sta bil, dass er darauf stehen, hin- und herlaufen und sogar herumspringen konnte.
Das Fahrzeug war drei Meter lang, knapp zwei Meter breit und lag gut im Wasser. Kaum zwei Stunden hatte es gedauert, es zu bauen!
Zweimal während der Arbeit war er zu Derek gelau fen, um nachzusehen, ob es ihm gut ging. Jetzt nahm er sich noch die Zeit, eine lange Stange zu suchen, mit der er das Floß voranstaken konnte, und mit dem Messer ein primitives Paddel zu schnitzen. Ein letztes Mal ging er zum Lager hinauf, bevor er in See stechen wollte.
Er war nicht hungrig. Brian war viel zu aufgeregt, um den Hunger zu spüren. Aber er wusste, er musste sich satt essen vor der großen Fahrt, um Kräfte zu sammeln. Lust los verschlang er all die Beeren und Nüsse, die sie in Tü ten aus Birkenrinde gesammelt hatten. Er aß alle Vorräte auf, weil sie unterwegs nichts mehr brauchen würden.
Während er aß, kontrollierte er noch einmal Dereks Zustand. Das Vorhaben war verrückt, das wusste er. Trotz allem gab es eine kleine Chance, dass die Floßfahrt auf dem Fluss glückte. Ja, Brian war sich bewusst, dass das Überleben von einer Portion Glück abhängig war. Hätte er nur die geringste Veränderung in Dereks Zustand bemerkt – ein Anzeichen, dass er von selbst aus dem Koma erwachen würde – , dann hätte Brian den ganzen Plan aufgegeben und weiter auf Rettung gehofft.
Doch in den starren Augen des Mannes war immer noch dieser glasige, bewusstlose Blick – wie seit dem ersten Tag. Und als Brian seinen Puls und seine Atem züge zählte, waren sie unverändert gleichmäßig.
Er brachte seinen Mund an Dereks Ohr und schrie laut seinen Namen – aber Derek reagierte nicht.
Da beschloss Brian, auch noch zu prüfen, ob Derek auf Schmerz reagierte: Er stach die Spitze seines Messers in Dereks Hand und beobachtete seine Augen. Nichts veränderte sich, kein Wimpernzucken, auch als Brian so fest zustach, dass ein Tröpfchen Blut hervortrat.
Die regelmäßigen Atemzüge und langsamen Herz schläge waren das einzige Zeichen von Leben in diesem Körper.
Brian wartete ein Weilchen und wiederholte noch ein mal all diese Tests – mit dem gleichen Ergebnis. Er musste absolut sicher sein, dass es keinen anderen Aus weg gab.
Nein, es gab keinen.
Als Brian aufstand und auf den See hinausblickte, fühlte er sich sonderbar alt und erwachsen. Er hatte eine Entscheidung getroffen und jetzt hing das Leben eines anderen Menschen von dieser Entscheidung ab. Noch nie hatte er die Verantwortung für ein Menschenleben übernommen. Damals, als er in Gefahr war und um sein Leben kämpfen musste, betrafen seine Entscheidungen nur ihn selbst. Nie einen anderen Menschen.
Hier aber lag Derek – so hilflos in seiner Bewusstlosig keit. Brian war der Einzige, der sein Leben retten konnte. Er sah das Floß am Ufer liegen und machte den Mund auf und sagte: »Wir fahren.«
Es war ein tonloses Flüstern.
Ganz gleich, ob Brians Entscheidung richtig oder falsch war, er musste es versuchen. Lieber Gott! dachte er, ohne den Satz zu beenden. Nur die eine Bitte: Lieber Gott …
Er drehte sich nach Derek um, räusperte sich und sagte noch einmal – laut und deutlich:
»Wir fahren.«
16
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Der Start erwies sich als beinah unmöglich. Brian trug die Aktenmappe zum Floß hinunter, das er inzwischen bis vor ihren Lagerplatz gestakt hatte, und beschloss, auch eine Waffe mitzunehmen. Den Bogen ließ er zu rück, aber er nahm die zwei Speere, die er gemacht hatte: den Fischspeer mit den gegabelten Spitzen, den er angefertigt hatte, um Derek zu zeigen, dass man klei nere Fische auch mit einem Speer fangen konnte; und die Lanze mit feuergehärteter Spitze, die er geschnitzt hatte, um sich – falls nötig – gegen einen Elch zu vertei digen.
»Hat der Elch dich damals wirklich angegriffen?«, hatte Derek gefragt. »Hat er dich wirklich verfolgt?«
»Ja, und voll erwischt«, hatte Brian gelacht. »Ich konnte gar nichts tun. Er kam immer wieder und stürzte sich auf mich und drückte mich unter Wasser, bis ich mich schließlich tot stellte. Das nächste Mal werde ich mich zur Wehr setzen.«
Darum hatte er die Lanze gemacht – und gehofft, dass er sie niemals brauchen würde.
Als die zwei Speere und die Aktenmappe auf dem Floß waren, lief er zum Camp zurück.
Derek.
Der wahre
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